Ein zentrales Problem der heutigen Zeit besteht darin, dass die Menschen nicht mehr richtig zusammen halten. Jeder steht mehr oder weniger für sich allein. Das ist das konsequente Ergebnis der neoliberalen Denkweise, die sich so vollständig über unsere Köpfe hergemacht hat, dass wir es kaum mehr bemerken. Sie war auf ganzer Linie erfolgreich damit, die Gesellschaft in einzelne Individuen zu atomisieren. Ganz nach dem Credo des Thatcherismus, der frech behauptet: There is no such thing as society. Seitdem glauben wir, dass es besser ist, wenn sich jeder um sich selber kümmert. In dieser Vorstellung gibt es nur noch einzelne Individuen, die miteinander interagieren, bestenfalls noch Familien, aber ein Gemeinwesen, das diesen Namen verdient, gibt es nicht mehr.
Eine solche Sichtweise hilft jenen Individuen, die über Macht verfügen, sei es politisch, ökonomisch, weltanschaulich oder in anderer Form, während die vielen Machtlosen und Ohnmächtigen, die diesen Globus bevölkern, in die Röhre schauen. Wenn die Gesellschaft nur noch aus einzelnen, zusammenhaltlosen Individuen besteht, sind die Mächtigen im Vorteil gegenüber den weniger Mächtigen oder den Ohnmächtigen, auch wenn deren Zahl sehr viel größer ist. Ihre schiere Anzahl ist völlig irrelevant, denn solange sie nicht zusammenstehen, bleiben sie machtlos. Die Atomisierung der Gesellschaft kommt also den Mächtigen sehr zupass, und weil sich die Politik im Zuge der Marktradikalisierung zunehmend selbst entmachtet, handelt es sich bei den Mächtigen insbesondere um die ökonomisch Mächtigen. Das kann auch nicht weiter überraschen, da der Neoliberalismus generell die Tendenz hat, die ökonomisch Mächtigen noch mächtiger zu machen als sie es ohnehin schon sind.
Da die Macht in den Händen von wenigen konzentriert ist, haben diese Einfluss und treffen die Entscheidungen. Entscheidungen, die unser aller Leben und unsere Zukunft bestimmen. Es ist ein absolut anti-demokratisches Programm. Die Mehrheit ist durch die gelungene Atomisierung der Gesellschaft und durch die Selbstkastration der Politik praktisch entmachtet. Dabei könnte die Mehrheit ihre Macht ganz leicht zurückgewinnen und der Entwicklung eine andere Richtung geben. Aber solange sie in einzelne Individuen zerfällt, die nicht zusammenstehen, bleibt diese Macht nur hypothetisch. Sie kann nicht zur Entfaltung kommen.
Unsere einzige Hoffnung besteht darin, die Atomisierung der Gesellschaft zu überwinden. Statt nur unser privates Glück zu suchen, müssen wir wieder füreinander einstehen und ein echtes Gemeinwesen bilden. Auf dem Fundament universeller Grundrechte, nach dem Prinzip „Einer für alle, alle für einen“. Jeder einzelne setzt sich nach seinen Möglichkeiten für das Ganze ein, und das Ganze respektiert jeden Einzelnen und fördert ihn in seiner Entwicklung als Individuum und Persönlichkeit. Dabei ist klar, dass keine der beiden Seiten das Verhältnis dominieren darf. Weder darf die Gesellschaft das Individuum dominieren, noch das Individuum die Gesellschaft. Ein ausgewogenes Verhältnis der beiden ist unabdingbar. Einen Absolutheitsanspruch einer der beiden Seiten — wie er seit Jahrzehnten aggressiv vorgetragen wird — darf es nicht geben.