Ehrenwerte Menschen

Wir sind ehrenwerte Menschen. Wir wollen nur das Beste für die ganze Welt. Ganz selbstlos wollen wir nur, dass das Recht und die Freiheit allerorten aufblühen und gedeihen — allein um ihrer selbst willen, nicht etwa um unseretwillen.

Wir sind ehrenwerte Menschen. Um uns geht es uns nicht. Wir wollen uns keine Einflusssphären sichern, keine Rohstoffquellen, keine Transportwege, keine Absatzmärkte. Wir wollen einfach nur das Richtige tun, ja das Gute. Sonst nichts.

Wir sind ehrenwerte Menschen? Das sind wir leider nicht. Wir sind echte Menschen. Und als solche sind wir manchmal gut, manchmal aber auch schlecht. Letzteres wollen wir uns selbst freilich nicht eingestehen. Wir verdrängen es, schieben es ganz weit von uns, wollen nichts davon hören. So entsteht durch selektive Wahrnehmung ein Bild von uns selbst, nach dem wir immer gut sind. Und die Guten verhalten sich natürlich immer ganz ehrenwert. So geht Selbstbetrug. Aber die Wahrheit ist etwas ganz anderes.

Erste Boten des nahenden Frühlings. Ich denke ja bei Frühling an singende Vögel und Frühjahrsblüher wie Ehrenpreis, Buschwindröschen und Lerchensporn. Manch anderer denkt dabei eher an Frühjahrsoffensiven. Warum nur können sich die Menschen nicht einfach darauf einigen, das Leben wertzuschätzen? Ich denke, da läuft in der Kommunikation etwas ganz furchtbar schief.

Neulich im Bus

„Was hälst Du von der Außenministerin?“

„Welcher Außenministerin?“

„Na, Frau Baerbock.“

„Ach so, Du meinst die amerikanische Außenministerin. Sag das doch gleich. Der deutsche Posten ist im Moment ja leider vakant.“

Gute Mörder, böse Mörder

In vielen Denksphären gibt es eine Tradition, zwischen guten Mördern und bösen Mördern zu unterscheiden. Die westliche Denksphäre ist da keine Ausnahme. Auch sie ist in dieser Kunst in höchstem Maße bewandert.

Die goldene Regel lautet: die guten Mörder findet man ausschließlich im eigenen Nest, während das andere Nest nur die bösen Mörder hervorbringt. Freilich nennt man die guten Mörder niemals Mörder, das klingt nämlich nicht sehr freundlich. Lieber nennt man sie Patrioten, Freiheitskämpfer oder Friedensstifter. Und man tut so, als ob die Waffen, mit denen sie ihr Friedensgeschäft betreiben, pure Gerechtigkeit über den Menschen herabregnen ließen. Das hört sich doch schon viel besser an. Ein guter Zweck, und wenn er nur fantasiert ist, heiligt jedes Mittel. Das ist eine jahrtausendealte Kulturtechnik, die die Menschen perfekt beherrschen. Auch im neuerdings so sehr auf Werte bedachten Westen.

Aber auch wenn man die guten Mörder nicht Mörder nennt, Mörder sind sie allemal. Die Wahrheit bleibt immer die Wahrheit, egal, welches Kleidchen aus Lügen man ihr überzieht. Man frage nur einmal die vielen Ermordeten im Jenseits. Sie wissen, was die Wahrheit ist, denn sie haben sie selbst erlebt. Sie sind Legion. Sie stehen dort in der Dunkelheit und klagen an. Männer, Frauen und Kinder. Alte und Junge. Sie verlangen Gerechtigkeit.

Doch darauf können sie noch lange warten. Für jegliche Klagen ihrer Opfer sind alle Seiten taub. Gerechtigkeit können jene allenfalls in hundert Jahren erfahren, wenn die hochverehrten Täter und ihre noch ehrenwerteren Anstifter nach einem glücklichen und erfüllten Leben friedlich entschlafen sind. Aber nicht in der heutigen Zeit.

Wir sind die freie Welt

Jetzt, wo die Zeiten wieder kälter und kriegerischer werden, hört man den alten Spruch wieder öfter: wir sind die freie Welt.

Wenn ich solche Reden höre, muss ich mich unwillkürlich fragen: ist es wirklich schon genug, frei zu sein? Kommt es nicht auch darauf an, wofür man seine Freiheit nutzt?

Und wofür genau nutzen wir denn unsere Freiheit?

Wir nutzen unsere Freiheit, um die Erde unbewohnbar zu machen. Aber wir nutzen unsere Freiheit nicht, um für unsere Kinder eine bewohnbare Welt zu erhalten.

Wir nutzen unsere Freiheit, um uns für die Guten zu halten. Aber wir nutzen unsere Freiheit nicht, um zu erkennen, dass es Gutes und Schlechtes in jedem Menschen gibt.

Wir nutzen unsere Freiheit, um die Welt schwarz und weiß zu sehen. Aber wir nutzen unsere Freiheit nicht, um alle Abstufungen und Schattierungen zu erkennen.

Wir nutzen unsere Freiheit, um uns in Feindbilder hineinzusteigern. Aber wir nutzen unsere Freiheit nicht, um andere unvoreingenommen und realistisch zu betrachten.

Wir nutzen unsere Freiheit, um uns wegen unserer Werte für etwas Besseres zu halten. Aber wir nutzen unsere Freiheit nicht, um alle Menschen als gleichwertig zu akzeptieren.

Wir nutzen unsere Freiheit, um auf andere von oben herabzuschauen. Aber wir nutzen unsere Freiheit nicht, um allen Menschen auf Augenhöhe und mit Respekt zu begegnen.

Wir nutzen unsere Freiheit, um die Menschheit zu spalten. Aber wir nutzen unsere Freiheit nicht, um mit allen Menschen zusammenzuarbeiten und gute Beziehungen zu pflegen.

Wir nutzen unsere Freiheit, um missliebige Länder zu destabilisieren und an politischen Pulverfässern herumzuzündeln. Aber wir nutzen unsere Freiheit nicht, um Frieden und Stabilität in der ganzen Welt zu bewahren.

Wir nutzen unsere Freiheit, um immer mehr Unsicherheit mit immer mehr Waffen zu schaffen. Aber wir nutzen unsere Freiheit nicht, um gute Beziehungen zu allen Ländern zu unterhalten und dadurch die Sicherheit aller zu verbessern.

Wir nutzen unsere Freiheit für die falschen Dinge, aber für die richtigen nutzen wir sie nicht. Doch sei’s drum. Wofür wir unsere Freiheit nutzen, ist ja nicht so wichtig. Hauptsache, wir sind die freie Welt.

Bezeichnend

Wir lesen überall von Politiker*innen und Bürger*innen, von Expert*innen und Leser*innen, aber so etwas habe ich noch nie gesehen: Friedensschwurbler*innen, Querdenker*innen und Verschwörungstheoretiker*innen.

Offenbar haben es Friedensschwurbler, Querdenker und Verschwörungstheoretiker nicht verdient, durch Gendern geadelt zu werden. Man muss gegenüber solchen Leuten eben die volle Verachtung zum Ausdruck bringen.

Rede eines Wahnsinnigen

Rauch stieg aus den umgebenden Trümmern. Der Wahnsinnige stand abseits von einem Trek zerlumpter und verdreckter Menschen, die zwischen den Ruinen hindurchzogen, und schrie: „Begreift ihr es denn nicht? Begreift ihr denn nicht, wer uns in diese Lage gebracht hat? Wer hatte den Anspruch, die ganze Welt zu führen? Und jetzt? Seht doch nur, wo ER uns hingeführt hat!“ Der Mann zeigte mit seinen zitternden, schmutzigen Fingern auf die verkohlten Ruinen, die einmal eine Stadt gewesen waren. „Schaut doch nur, was uns SEINE Führung gebracht hat! Durch IHN ist Europa zu einem Schlachthaus geworden. Und unsere Politiker? Was haben sie getan? Haben sie unseren Kontinent gut verwaltet? Haben sie alles getan, um das hier abzuwenden? Ha! Sie haben jeden Gedanken an die drohende Gefahr weggeschoben und kräftig dabei mitgeholfen, den Kontinent in den Abgrund zu stürzen. Diese Jasager, diese Kriecher und Mitläufer, ohne ein eigenes Gehirn, immer nur darauf bedacht, ein trockenes Plätzchen in SEINEM Schatten zu finden.“

Der Wahnsinnige hielt inne und starrte die Vorbeiziehenden an. Er hoffte auf irgendeine Reaktion, auf irgendein geistiges Lebenszeichen, doch die Masse zog stumpfsinnig weiter, ohne ihn zu beachten. „Hört ihr denn nicht?“, schrie er wieder und wieder. „Hört ihr denn nicht?“ Er rannte an der Menschenkolonne auf und ab, er rannte und rannte und schrie. Doch es war vergebens.

Erschöpft von seinem inneren Schmerz und vom Hunger, sank der Mann auf die Knie, und sein Gesicht verzerrte sich zu einer verzweifelten, gepeinigten Grimasse. „Hört ihr denn nicht?“ Seine Stimme war nun ganz schwach und leidend geworden. „Warum haben unsere eigenen Leute nur zugelassen, dass Europa zur Schlachtbank geführt wird? Warum?“ Tränen rannen über sein Gesicht. Vor seinem inneren Auge sah er seine Frau und seine Tochter, die beide nicht mehr waren. Der Rest seiner Worte ging in einem Wimmern unter.

So weit wird es schon nicht kommen!

Ich frage mich jetzt öfter dieser Tage, wie sich die Menschen wohl vor dem Ausbruch des 1. und des 2. Weltkrieges gefühlt haben. Ob sie sich genauso gefühlt haben wie wir uns heute? Ob sie auch dachten, dass es zu einem Krieg schon nicht kommen werde?

Ich höre in den Nachrichten, wie ein Schritt nach dem anderen zur weiteren Eskalation der Lage getan wird. Ich frage mich, ob die Menschen damals auch in den Zeitungen und Gazetten verfolgten, wie die politische Situation von Mal zu Mal schlimmer wurde. Erschraken sie auch jedesmal, wenn es wieder ein Stück brenzliger wurde? Und gewöhnten sie sich auch so schnell daran wie wir? Redeten sie sich auch so gerne ein, dass es trotz allem nicht zum Schlimmsten kommen werde?

Ich fürchte, unsere Fantasie reicht nicht aus, uns vorzustellen, was noch alles passieren kann. Und wie schnell.

Schmerzhafte Erfahrungen voraus

Es ist aus der menschlichen Geschichte offensichtlich, und auch jetzt ist es wohl wieder soweit: die Menschheit lernt vor allem durch Schmerzen, nicht durch vernünftige Überlegung. So muss also jetzt wieder eine Zeit der Schmerzen und der Tränen kommen. Ich hoffe nur, es trifft auch die Verursacher, damit der Lerneffekt endlich nachhaltig wird.