Die Welt befindet sich in einem Umbruch. Vielerorts machen sich autoritäre Bewegungen breit, die Demokratie ist in einer Krise. Völkisch-nationalistische Vorstellungen auf der einen und marktradikale Ideen auf der anderen Seite, nicht selten im Verein miteinander, bedrohen die Demokratie von innen. Während die einen eine völkisch-autoritäre Herrschaft installieren wollen — mit einem starken Mann an der Spitze, der die Lösung aller Probleme verspricht — arbeiten die anderen schon seit Jahrzehnten höchst erfolgreich an einer Aushöhlung der Demokratie, mit dem Ziel, demokratische Spielregeln für den Einzelnen weitestgehend abzuschaffen und die Menschen einem ganz und gar undemokratischen Markt zu unterwerfen.
Weder die Vertreter ultrarechter noch die Anhänger marktradikaler Weltbilder sind Freunde der Demokratie. Bei allen Unterschieden im Detail haben sie eine weitere wesentliche Gemeinsamkeit: sie teilen den Fetisch der Stärke. Die einen im nationalen, völkischen, rassischen Sinn, die anderen im individuellen, privaten, ökonomischen Sinn. Stärke und Schwäche werden von den einen der Nation, dem „Volk“ oder der „Rasse“ zugeschrieben, von den anderen zum Nutzen bzw. zum Schaden des Individuums privatisiert. Beide halten das Leben prinzipiell für einen Kampf. Der Mensch wird zu einem Tier, das gegen andere Menschentiere kämpfen und sich gegen sie behaupten muss. Gegen Zuwanderer im einen, gegen Marktkonkurrenten im anderen Fall.
Freilich wird auf dem freien Markt nicht von Kampf, sondern feiner von Wettbewerb gesprochen. Das ändert jedoch nichts am Kern der Sache. Auf dem freien Markt muss jeder sehen, wo er bleibt. Die Konkurrenz schläft nicht. Das Individuum ist gezwungen, einen niemals endenden Wettkampf um einen Platz an der Sonne zu führen. Einen Kampf, der in erster Linie auf ökonomischem Gebiet stattfindet, der aber auch handfeste Auswirkungen auf das Leben des Einzelnen hat, bis hin zur Lebenserwartung. Wer den Kampf verliert, hat gute Chancen, früher zu sterben. Gute Bildung, gesundes Essen und eine gute Gesundheitsversorgung kosten Geld. Wer davon nicht genug hat, schaut auf dem freien Markt in die Röhre. Mögen die Anhänger marktradikaler Vorstellungen noch so sehr behaupten, sie stünden auch für die Menschenrechte: zwar lehnen sie direkte Eingriffe in die Menschenrechte nominell ab, aber wenn der Markt in seiner unermesslichen Weisheit entscheidet, dass Menschen früher sterben müssen, dann ist das eben so. Der Markt hat immer Recht.
Damit sind die Gemeinsamkeiten zwischen ultrarechten und marktradikalen Vorstellungen aber noch nicht ausgeschöpft. Anhänger beider Richtungen beanspruchen für sich auch den Begriff der Freiheit, womit letztlich aber nur die Freiheit der Starken gemeint ist. In einer nationalistischen Welt gibt es Freiheit nur für die starken Nationen, während die Schwachen nach der Pfeife der Starken tanzen müssen. Auf dem freien Markt können die ökonomisch Starken die Abhängigkeit der ökonomisch Schwachen ausnutzen und ihnen ihre Vertragsbedingungen diktieren. Dann heißt es: friss, Vogel, oder stirb. Der freie, unregulierte Markt schafft eine hierarchische Welt, in der die Position des Individuums innerhalb der Hierarchie potentiell fließend ist. In dieser Welt ist Freiheit zwar auf dem Papier ein Grundrecht. Tatsächlich ist sie aber höchst ungleich verteilt und wird so zu einem Privileg. Die weitaus meisten Freiheiten haben die, die gerade an der Spitze stehen. Die Freiheiten, die das Individuum hier und da genießen kann, nehmen ab, je weiter man in der Hierarchie nach unten kommt. Neben der Freiheit ist vielfach auch die Wertschätzung für das Individuum ungleich verteilt: die erfolgreichen Unternehmer an der Spitze der Hierarchie werden oftmals als wertvollere Daseinsform betrachtet als der angeblich nutzlose Bodensatz aus Arbeitslosen.
Auch in der Welt nach ultrarechter Strickart gibt es Hierarchien. Zwar fügen viele völkisch Gesinnte dem egoistisch-individualistischen Menschenbild der marktradikalen Weltsicht eine soziale Komponente hinzu, doch ihre Auffassung vom Sozialen endet an Volks- und Rassegrenzen. So entsteht das Bild von einer Volksgemeinschaft, die sich von anderen, oftmals als minderwertig angesehenen Völkern abgrenzt. Aber auch innerhalb der Volksgemeinschaft sind nicht zwangsläufig alle gleich. Auch hier muss sich der Einzelne in einer Hierarchie unterordnen. Es gibt bessere Kinder des Volkes und schlechtere, Führer und Geführte. Der jeweilige Platz in der Hierarchie wird durch den ungleichen Wettstreit zwischen den Individuen entschieden, durch ein undurchsichtiges Gemisch aus Konkurrenz, Selektion von oben und Beziehungen.
Rechtsextreme und marktradikale Weltbilder haben also, bei allen Unterschieden, die sie ansonsten trennen, einiges gemeinsam. Und diese Gemeinsamkeiten sind nicht zufällig. Sie entspringen dem sozialdarwinistischen Ansatz beider Ideologien. In der marktradikalen Weltsicht tritt der darwinistische Aspekt im ökonomischen Wettstreit offen zu Tage, der nichts anderes ist als ein ökonomisches Surviving of the fittest, ein Kampf des Individuums um seine ökonomische (und als Folge davon oftmals auch physische) Existenz. Während dabei der direkte, gewaltsame Zwang gegen das Individuum noch abgelehnt wird, halten sich Rechtsextreme mit solchen Befindlichkeiten nicht auf. Sie heben den Sozialdarwinismus auf eine völkische, rassische Ebene, und sie sind auch nicht abgeneigt, den Kampf Rasse gegen Rasse mit Gewalt zu führen. Man könnte auch sagen: das neoliberale Gerede von Wettbewerb, Leistung und Eigenverantwortung hat in den letzten Jahrzehnten den Boden für eine Verbreitung sozialdarwinistischen Denkens bereitet, worauf die Ultrarechten nun aufbauen können. Sie können das sozialdarwinistische Projekt, das von marktradikalen Ideologen betrieben wurde, aufgreifen und ihm eine neue, noch fatalere Richtung geben. Eine Richtung, die von neoliberaler Seite so sicher nicht beabsichtigt war.
Um mit diesem Sozialdarwinismus zu brechen, ist ein grundsätzlich anderes Menschenbild vonnöten. Ein Menschenbild, das der Vorstellung von einem Leben als Kampf eine klare Absage erteilt. Statt die Menschen einem freien, darwinistischen Wettbewerb auszuliefern, den am Ende des Tages nur wenige gewinnen und weite Teile der Menschheit nur verlieren können, müssen wir uns auf die Kraft unserer Vernunft besinnen, um mit ihrer Hilfe eine Welt zu gestalten, in der jeder Mensch — und ich meine damit wirklich jeden — einen Platz für ein menschenwürdiges Leben findet.
Die entscheidende Frage ist: welche Art von Menschen wollen wir sein? Wollen wir Menschentiere sein, die gegen ihre Artgenossen kämpfen und sich gegen sie durchsetzen müssen, oder wollen wir aufrechte Menschen sein, die dafür eintreten, dass jedem ein universelles Recht auf ein menschenwürdiges Leben zukommt? Während die einen das Leben als Kampf begreifen, wollen die anderen, dass alle Menschen ein Auskommen haben, dass die Menschen zusammenhalten und füreinander einstehen, ohne ihre Individualität aufzugeben. Sie wollen kein Leben führen, das anderen das Leben schwer oder gar unmöglich macht. Sie halten fest an der Idee universeller Menschenrechte, einer unteilbaren Menschheit, während die anderen die Menschheit spalten wollen.
Welche Art von Menschen wollen wir also sein? Die Antwort auf diese Frage wird unseren Weg in die Zukunft bestimmen. Wie soll unsere Zukunft als Menschheit aussehen? Wenn wir wollen, dass sie wie unsere Vergangenheit wird, eine Mischung aus wenig Licht und viel Dunkelheit, dann können wir unseren gegenwärtigen Kurs einfach beibehalten. Denn die Dunkelheit kommt ganz von allein. Schon seit Jahrtausenden stolpern wir so durch unsere Geschichte, von einer selbst verursachten Kalamität in die nächste. Wenn wir aber wollen, dass mehr und mehr Licht am Horizont erscheint und das Leben unserer Kinder und Enkel ein Helleres wird, dann müssen wir heute die Weichen dafür stellen. Das Licht kommt nämlich nicht von allein. Es muss von uns gemacht werden, immer wieder von Neuem, Generation für Generation. Es ist eine niemals endende Aufgabe für die ganze Menschheit, dieses Licht am Leben zu erhalten.
Viele Starke (und solche, die sich dafür halten) haben sich schon entschieden, wo sie in dieser Frage stehen wollen. Sie standen schon immer vor allen Dingen auf ihrer eigenen Seite. Jetzt kommt es darauf an, wie wir anderen uns entscheiden. Spielen wir ihr sozialdarwinistisches Spiel mit, in dem nur sie gewinnen können, oder befreien wir uns daraus, indem wir ihm etwas Besseres, das Wohl aller Menschen, wer sie auch immer sind und wo sie auch immer leben, entgegensetzen?