Homo homini lupus, sagt ein alter lateinischer Spruch. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Da ist durchaus etwas dran. Der Mensch kann durchaus dem Menschen ein Wolf sein. Und nur allzu oft ist er es auch. Man könnte fast sagen: es ist die Regel. Solange es nicht weh tut und nicht viel kostet, können wir den Wolf in uns noch zurückhalten und uns ganz zivilisiert und menschlich geben. Aber wenn uns die Kosten zu hoch werden, geht es auch ganz schnell anders. Wenn es hart auf hart kommt, wird eben der Wolf von der Kette gelassen. Und es gibt nicht wenige, für die die Schwelle, ab der ihnen die Kosten der Menschlichkeit zu hoch werden, ziemlich niedrig liegt.
Ist es da nicht naiv, zu fordern, dass der Mensch dem Menschen ein Mensch sein soll? Geht es nicht an der Natur des Menschen gänzlich vorbei? Sollte man vom Menschen nicht Dinge verlangen, die eher seiner Natur entsprechen, und die er auch zu leisten imstande ist?
Solche Stimmen hört man immer wieder. Ich halte gar nichts von diesem Zynismus. Man darf es sich als Mensch nicht zu einfach machen. Die Messlatte tief hängen, nach dem Motto: es ist schon okay, auch mal ein Wolf zu sein — das kann jeder. Da gehört nicht viel dazu. Nein! Man muss sich selbst auch etwas abverlangen. Dass der Mensch dem Menschen ein Mensch sein kann, zeigen ja nicht wenige Beispiele. Es ist nicht unmöglich. Warum sollte man also nicht von einem jeden Menschen verlangen, sich wie ein Mensch gegenüber anderen Menschen (und im übrigen auch gegenüber Tieren) zu verhalten?
Freilich wird es nicht immer gelingen, die Schattenseiten des Menschen unter Kontrolle zu halten. Da darf man sich nichts vormachen. Als Humanist muss man auf das Gute im Menschen hoffen, aber mit dem Schlechten im Menschen rechnen. Ein Humanist ist kein Dummkopf, zumindest sollte er es nicht sein. Doch auch wenn Rückfälle in die Unmenschlichkeit jederzeit möglich sind, müssen wir trotzdem immer wieder versuchen, die Unmenschlichkeit zu bekämpfen, wo wir nur können. Auch und gerade in uns selbst.