Was hilft gegen Irrsinn? Noch mehr Irrsinn?
Die Erde kommt mir immer mehr vor wie ein riesiges Irrenhaus, das planlos durchs Weltall trudelt. Man kann von Glück reden, dass die Erdbewohner der Raumfahrt noch nicht wirklich mächtig sind, so dass ihr Irrsinn im Moment noch auf die Erde beschränkt bleibt. Der menschliche Irrsinn befindet sich auf der Erde sozusagen in einer natürlichen Quarantäne. Aber ich fürchte, es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Technologie unserem beschränkten Geist die Mittel an die Hand gibt, unseren Irrsinn auch noch im übrigen Universum zu verbreiten.
Wir kämpfen weltweit mit den Folgen einer irrsinnigen Politik. Die Politik ist insbesondere deshalb irrsinnig, weil sie weite Teile der Bevölkerung abgeschrieben hat. Sie hat die Menschen in einen radikalen Wettbewerb gestürzt, in dem die Starken nach oben kommen und die Schwachen den Kürzeren ziehen. Im Kern ist dieser Wettbewerb durch und durch darwinistisch. Ihm liegt eine Leistungsideologie, eine Ideologie der ökonomischen Stärke zugrunde. Freilich werden dabei darwinistische Begriffe vermieden. Statt dessen redet man fein von Markt und Wettbewerb, von Angebot und Nachfrage. Aber im Grunde ist es ein ökonomisches surviving of the fittest. Angebot und Nachfrage sind nichts anderes als Variation und Selektion übertragen auf das wirtschaftliche Gebiet. Alle Marktteilnehmer müssen beständig ihr Angebot variieren, um gegenüber der Selektion durch die anderen Marktteilnehmer zu bestehen. Es ist ein ökonomischer Darwinismus, der sich als Marktideologie in den Hirnen der Menschen eingenistet und festgesetzt hat.
Die tonangebende Politik trägt diese Marktideologie vor sich her, als wenn sie ihr ein und alles wäre. Doch die Damen und Herren Politiker haben sie nicht erfunden. Erfunden haben sie sogenannte „Ökonomen“, die den ahnungslosen Menschen das Märchen vom freien Markt erzählen. Dieses Märchen handelt von unsichtbaren Händen, die angeblich dafür sorgen, dass ein freier Markt mit freiem Wettbewerb am Ende allen zugutekommt. An den Weihnachtsmann zu glauben ist nichts dagegen. Ich bin mir auch nicht sicher, ob die Politik wirklich so dumm ist, an den Nutzen des freien Marktgeschehens für alle wirklich zu glauben. Vielleicht glaubt sie auch, dass es schon reicht, wenn der freie Markt dem Nutzen einer Mehrheit dient. Wenn nur eine Minderheit von Schwachen im Wettbewerb mit den Starken den Bach runtergeht, ist doch alles in Butter. Das nennt man dann „demokratisch“. Oder aber, und das trifft wohl insbesondere auf das sogenannte „bürgerliche“ Politiklager zu, die Politik geht in ihrer Verherrlichung des Leistungsprinzips davon aus, dass die Starken ohnehin das größte Stück vom Kuchen verdient haben. Wie dem auch sei. Jedenfalls muss sich nach der herrschenden Ideologie alles und jeder den Märkten unterordnen. Die Menschen müssen marktkonform sein, sie müssen sich dem Wettbewerb stellen. Wer untergeht, hat sich nicht genug angestrengt und ist selber schuld. Die Demokratie muss marktkonform sein. Der Staat ist schlecht im Wirtschaften und Organisieren. Das sollte man den Unternehmern überlassen, die darin angeblich besser sind. Bislang staatliche Aufgaben werden deshalb privatisiert. Was mit der öffentlichen Daseinsvorsorge passiert, wenn diese Unternehmer pleite gehen, was ja durchaus auch passieren kann (so viel zum Thema, dass Unternehmer besser wirtschaften können), fragt sich keiner. Das ist die Politik des totalen Markts. Es ist eine Ausgeburt marktradikaler Unvernunft. Wir werden von Bürgern, die alle die gleichen Rechte und Pflichten haben, zu Kunden, Konsumenten, Unternehmern, die in einem ungleichen Wettbewerb miteinander stehen, der seinerseits nichts als Ungleichheit hervorbringt.
Doch worin suchen die Menschen ihre Zuflucht angesichts des eklatanten Markt- und Politikversagens, das die Armut in vielen Ländern anwachsen und den sozialen Zusammenhalt immer brüchiger werden lässt? Halten sie inne und denken ehrlich und vernünftig darüber nach, was schiefgelaufen ist und was man besser machen müsste? Schön wär’s! Aber für Ehrlichkeit und Vernunft ist der menschliche Geist wohl einfach nicht gestrickt. Statt sich den wenigen Stimmen der Vernunft zuzuwenden, suchen die Menschen ihr Heil im lautstarken Krawall der dümmstmöglichen Unvernunft. Vernünftige Leute werden nicht gehört, nur noch das laute Geschrei der Populisten wird mit Aufmerksamkeit belohnt.
So sind weltweit die Populisten auf dem Vormarsch. Mit nationalistischen und autokratischen Tönen propagieren sie den starken Mann an der Spitze und die starke Nation, die zusammen alle Probleme lösen sollen. Diese Volksverführer und -verhetzer erzählen den Leuten das, was diese hören wollen, weil sie dann über die Wahlurnen in die Parlamente gespült werden. Sie haben auf alle Fragen der Menschen die passenden Antworten parat, die jedem einleuchten, der nur dumm genug ist, sie zu glauben. Sie bedienen Ressentiments und verstärken sie für ihre eigenen Zwecke. Sie setzen Lügen ein, um die Menschen zu verführen, appellieren an das Schlechte im Menschen, an Wut, Hass und Feindseligkeit gegenüber allen, die anders denken und anders sind. Sie heucheln Verständnis für die Lage der Menschen, und kennen ganz genau die angeblichen Feinde, die an allem Schuld sein sollen. Und die Feinde sind schnell unter den Minderheiten gefunden. Unter den Fremden, den Linken, den „Gutmenschen“, den Regierenden. Nichts schweißt mehr zusammen als ein vermeintlicher Feind, gegen den man kämpfen muss.
Dazu kommt noch das Internet, das sich immer mehr zu einem Mittel der Abkapselung von der Realität entwickelt. Das Internet generiert eine virtuelle, alternative „Realität“, die mit der Wirklichkeit immer weniger zu tun hat. Die Menschen leben in ihren Filterblasen, in denen sie nur noch das als „Wahrheit“ akzeptieren, was in ihr eigenes Weltbild passt, während die tatsächliche Wahrheit, die dem eigenen Weltbild widerspricht, als Fake oder als Lüge abgetan wird. Dabei halten sie sich selbst für kritische Geister, und vergessen doch, dass eine wirklich kritische Haltung sich nicht darin erschöpft, andere zu kritisieren, sondern ein selbstkritisches Hinterfragen der eigenen Vorstellungen voraussetzt. Kritik an anderen zu üben ist keine große Kunst. Das ist kein Zeichen eines kritischen Geistes. Die Fähigkeit zu einer ehrlichen Selbstkritik gehört untrennbar und an erster Stelle dazu.
So schlägt das Pendel der Weltgeschichte jetzt in die andere Richtung. Der Gegen-Irrsinn ist aus den dunkelsten und finstersten Winkeln unseres Geistes hervorgekrochen und holt zum Schlag aus. Irrsinn und Gegen-Irrsinn kämpfen um die Vorherrschaft im planetaren Irrenhaus. Und die wenigen geistig Vernünftigen stehen fassungslos am Rand. Sie rufen und winken, aber sie werden nicht gehört. Dies sind keine Zeiten für Leute, die ihren Kopf für mehr gebrauchen als zum Tragen von Frisuren, Sonnenbrillen und einfach gestrickten Weltbildern.
Damit der Mensch dem Menschen ein Mensch wird
Homo homini lupus, sagt ein alter lateinischer Spruch. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Da ist durchaus etwas dran. Der Mensch kann durchaus dem Menschen ein Wolf sein. Und nur allzu oft ist er es auch. Man könnte fast sagen: es ist die Regel. Solange es nicht weh tut und nicht viel kostet, können wir den Wolf in uns noch zurückhalten und uns ganz zivilisiert und menschlich geben. Aber wenn uns die Kosten zu hoch werden, geht es auch ganz schnell anders. Wenn es hart auf hart kommt, wird eben der Wolf von der Kette gelassen. Und es gibt nicht wenige, für die die Schwelle, ab der ihnen die Kosten der Menschlichkeit zu hoch werden, ziemlich niedrig liegt.
Ist es da nicht naiv, zu fordern, dass der Mensch dem Menschen ein Mensch sein soll? Geht es nicht an der Natur des Menschen gänzlich vorbei? Sollte man vom Menschen nicht Dinge verlangen, die eher seiner Natur entsprechen, und die er auch zu leisten imstande ist?
Solche Stimmen hört man immer wieder. Ich halte gar nichts von diesem Zynismus. Man darf es sich als Mensch nicht zu einfach machen. Die Messlatte tief hängen, nach dem Motto: es ist schon okay, auch mal ein Wolf zu sein — das kann jeder. Da gehört nicht viel dazu. Nein! Man muss sich selbst auch etwas abverlangen. Dass der Mensch dem Menschen ein Mensch sein kann, zeigen ja nicht wenige Beispiele. Es ist nicht unmöglich. Warum sollte man also nicht von einem jeden Menschen verlangen, sich wie ein Mensch gegenüber anderen Menschen (und im übrigen auch gegenüber Tieren) zu verhalten?
Freilich wird es nicht immer gelingen, die Schattenseiten des Menschen unter Kontrolle zu halten. Da darf man sich nichts vormachen. Als Humanist muss man auf das Gute im Menschen hoffen, aber mit dem Schlechten im Menschen rechnen. Ein Humanist ist kein Dummkopf, zumindest sollte er es nicht sein. Doch auch wenn Rückfälle in die Unmenschlichkeit jederzeit möglich sind, müssen wir trotzdem immer wieder versuchen, die Unmenschlichkeit zu bekämpfen, wo wir nur können. Auch und gerade in uns selbst.
Wir wollen auf Erden glücklich sein
Eine meiner liebsten Stellen aus Heinrich Heines “Wintermärchen“:
Ein kleines Harfenmädchen sang. Sie sang mit wahrem Gefühle Und falscher Stimme, doch ward ich sehr Gerühret von ihrem Spiele. Sie sang von Liebe und Liebesgram, Aufopfrung und Wiederfinden Dort oben, in jener besseren Welt, Wo alle Leiden schwinden. Sie sang vom irdischen Jammertal, von Freuden, die bald zerronnen, Vom Jenseits, wo die Seele schwelgt Verklärt in ewgen Wonnen. Sie sang das alte Entsagungslied, das Eiapopeia vom Himmel, womit man einlullt, wenn es greint, Das Volk, den großen Lümmel. Ich kenne die Weise, ich kenne den Text, Ich kenn auch die Herren Verfasser; Ich weiß, sie tranken heimlich Wein Und predigten öffentlich Wasser. Ein neues Lied, ein besseres Lied, O Freunde, will ich Euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon Das Himmelreich errichten. Wir wollen auf Erden glücklich sein, Und wollen nicht mehr darben; Verschlemmen soll nicht der faule Bauch Was fleißige Hände erwarben. Es wächst hienieden Brot genug Für alle Menschenkinder, Auch Rosen und Myrten, Schönheit und Lust, Und Zuckererbsen nicht minder. Ja, Zuckererbsen für jedermann, Sobald die Schoten platzen! Den Himmel überlassen wir Den Engeln und den Spatzen. Heinrich Heine
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen
Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.
Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.
Rainer Maria Rilke