Heute wurde vermeldet, dass die USA bereits die Hälfte ihrer Erwachsenen gegen das Virus SARS-CoV-2 geimpft hat. Es ist erstaunlich, was man auf diesem Gebiet schaffen kann, wenn man keine Impfstoffe exportiert, sondern alles für sich behält. Erstaunlich auch, dass dieser unverhohlene Impfegoismus kaum von anderen westlichen Ländern kritisiert wird. Die scheinen die Sache wohl für normal zu halten — oder gar nichts anderes mehr von der „America first“-Nation zu erwarten.
Bezeichnend ist: gerade die Länder, die die radikalsten Vertreter einer freien Marktwirtschaft sind, legen auch einen extremen Impfegoismus an den Tag. Sie sind nicht bereit, Impfstoffe mit anderen Ländern zu teilen. Sie führen sich auf wie Alphatiere im Dschungel, die sich als Erste an einer erlegten Beute sattfressen dürfen. Erst danach gibt es auch etwas für die anderen. Und sie haben dabei noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen, weil sie denken, es sei ihr vornehmstes Recht, so zu handeln.
Die COVAX-Initiative, die den ärmeren Staaten einen fairen Zugang zu den Impfstoffen ermöglichen soll, ist nicht viel mehr als ein Feigenblatt. Sie ist unterfinanziert und ihre Ziele sind zu wenig ambitioniert. Nur 2 Milliarden Impfdosen sollen noch in diesem Jahr an die teilnehmenden Länder gehen. Das Ziel ist niedrig gesteckt. Lediglich 20% der Bevölkerung sollen in den betreffenden Ländern immunisiert werden. Viel zu wenig, um diese Pandemie wirklich zu beenden.
Um letzteres zu erreichen, hätte man längst massiv in die Produktion der zugelassenen Impfstoffe einsteigen müssen. Jede Firma, die in der Lage ist, die Impfstoffe in hoher Qualität herzustellen, müsste genau das jetzt tun: produzieren, produzieren, produzieren. Die Aufgabe der reichen Länder wäre es, den Weg dafür freizumachen (Freigabe der Patente) und die Produktion massiv zu finanzieren.
Dazu ist der Westen nicht bereit. Auch Deutschland nicht. Wir beharren weiter auf den Patenten und hoffen, dass der Markt den lebensrettenden Impfstoff der Welt irgendwann schon noch bringen wird. Und verweisen auf COVAX. Es ist bereits jetzt abzusehen, dass diese Verweigerung Hunderttausende von Menschen das Leben kosten wird. Das ist unterlassene Hilfeleistung (unter normal denkenden Menschen ein Verbrechen) im Mäntelchen der Philanthropie.
Das Problem ist: in unserer Brust schlagen zwei Herzen. Ein kleines und ein großes. Das kleine Herz schlägt für unsere Mitmenschen. Mit ihm wollen wir uns für andere einsetzen, ihnen helfen, wenn sie in Not sind, gerecht und fair mit anderen umgehen. Ganz anders das große Herz. Das schlägt nämlich nur für uns selbst. Es möchte, dass unsere Schäfchen im Trockenen sind, auch wenn das heißt, dass die anderen dann im Regen stehen. Es flüstert uns unablässig ins Ohr, dass es schon okay ist, „auch mal“ an sich selbst zu denken.
Wir haben aber nicht nur zwei Herzen, wir haben auch zwei Brillen, mit denen wir die Welt betrachten: eine rosarote und eine dunkle. Durch die rosarote Brille betrachten wir uns gerne selbst. Mit ihr sieht unser kleines, menschenfreundliches Herz riesengroß aus, während von dem großen, eigennützigen Herz gar nichts mehr zu sehen ist. Mit der dunklen Brille betrachten wir gerne missliebige Mitmenschen, seien es ungeliebte Verwandte, Nachbarn, Kollegen oder Konkurrenten. Auch unser Bild von Fremden, die wir nur aus den Medien oder aus dem Internet kennen, kommt oft von dieser Brille. Das, was wir über diese Menschen sehen oder lesen, ist oft schon dunkel vorgefiltert. Durch unsere eigene dunkle Brille betrachtet, bleibt dann gar kein gutes Haar mehr an ihnen. Sie werden in unserem Auge zur Schlechtigkeit in Person, wahlweise sind sie für uns dumm, schwach, faul, aggressiv oder bösartig. Alles, was gegen sie sprechen könnte, auch wenn es nur in unserer Vorstellung existiert, erscheint uns durch diese Brille riesengroß. Was aber für sie sprechen könnte, das sehen wir meist gar nicht mehr, oder es wird noch etwas Negatives, Bösartiges dahinter vermutet.
Wie bei dem gehässigen Gerede über eine russische und eine chinesische „Impfdiplomatie“. Sicherlich versuchen die beiden Länder mit der Lieferung von Impfstoffen auch, ihre internationalen Beziehungen zu verbessern. Aber dass sie mit ihren Impfstoffen auch einen essentiellen Beitrag zur Beendigung der Pandemie leisten, dass sie damit Menschenleben retten und dies sicherlich auch wollen, kann man doch nicht in Abrede stellen. Es ist ein Ausdruck des kleingeistigen Konkurrenzdenkens der westlichen Staaten gegenüber diesen beiden Ländern, dass sie das nicht anerkennen können. Es kommt einem fast so vor, als ob es manchem körperliche Schmerzen bereiten würde, wenn er zugeben müsste, dass etwas Positives aus Russland oder China kommt. Das ist ein Beispiel von Dutzenden, die zeigen, wie sehr sich der Westen schon im Gedankennetz eines neuen kalten Krieges verstrickt hat. Nur er selbst hat es noch nicht gemerkt, weil er sich selbst so gerne durch die rosarote Brille besieht.
Eines ist doch klar: in der Pandemie sollte die ganze Menschheit über alle ideologischen Differenzen und Grenzen hinweg zusammenarbeiten. Alle sollten zusammen an einem Strang ziehen, um dieses Virus zu besiegen, mindestens aber so viele Menschenleben wie möglich zu retten. Leider muss man konstatieren, dass zumindest der Westen dazu mehrheitlich nicht bereit ist, und geistig offensichtlich auch nicht in der Lage.
Eine Pandemiebekämpfung ohne ideologische Scheuklappen ist mit dem Westen nicht zu machen. Auch wenn es Menschenleben kostet. Lieber werden Menschen geopfert, als ideologische Bedenken zurückzustellen. Dass das ganze auch nach hinten losgehen kann, ist kein Geheimnis. Der westliche Egoismus kann sich sehr schnell als Bumerang erweisen, der in Gestalt von Virusmutationen, gegen die keiner der aktuellen Impfstoffe mehr hilft, zurückkommt. Es ist ein Spiel mit dem Feuer.
Ich vermute sogar, dass die Verantwortlichen das bereits einkalkuliert haben. Nicht umsonst wird bereits darauf hingewiesen, dass wir noch viele Jahre lang mit Impfungen gegen diverse Varianten dieses Virus werden leben müssen. Für die Rechteinhaber an den Impfstoffen wird die Pandemie zum Geschäft ihres Lebens.