Leider muss man davon ausgehen, dass der Weg, auf dem die Menschheit in die Zukunft stolpert, durch ein Tal aus Blut und Tränen führen wird. Das Leid, das Menschen anderen Menschen bereiten im Namen der „Gerechtigkeit“, der „Wahrheit“, oder weil die anderen es schlicht nicht besser verdient hätten, ist unermesslich. Menschen unterdrücken andere Menschen. Sie halten sie klein, damit es ihnen selbst besser geht. Sie beuten sie aus, verfolgen sie, stecken sie in Gefängnisse, foltern und ermorden sie, beginnen Kriege, zerstören ganze Länder, weil es die „Gerechtigkeit“ verlangt, weil es ein „heiliges Prinzip“ gebietet. Und wie von Zauberhand sind die Opfer immer selbst schuld. Die Täter sind immer ganz unschuldig wie Schafe. Sie wurden doch provoziert, verlangen nur ihr natürliches Recht, wurden selbst in ihrem Recht beschnitten und mussten sich verteidigen. Oder die Opfer haben schlimme Verbrechen begangen, für die sie pauschal als Gruppe bestraft werden müssen. Um Ausreden sind die Täter nie verlegen.
Die neuen technischen Entwicklungen, die am Horizont heraufziehen, machen die Sache nicht besser, sondern schlimmer. Sie geben den Menschen noch ausgefeiltere und bessere Möglichkeiten, einander auszunutzen und zu quälen, als es sie heute schon gibt. Automatisierung, künstliche Intelligenz, Internet und Gentechnik könnten zum Wohlergehen der ganzen Menschheit verwendet werden, wenn man es nur richtig anfangen würde. Aber davon sind wir weit entfernt. Für die ganze Menschheit interessiert sich keiner. Überall sind nur widerstreitende Partikularinteressen am Werk. Jeder hat Angst, dass er zu kurz kommt, auch dann, wenn er schon viel mehr vom Kuchen abbekommt als andere.
Wie also wird die Zukunft aussehen, die Zukunft des Affen, der sich Homo sapiens nennt? Das kann natürlich keiner mit Bestimmtheit sagen. Wenn man die Vergangenheit extrapoliert, kann man aber zumindest mit einiger Zuversicht sagen, dass die Zukunft außerordentlich schwierig und wechselhaft werden wird. Das Pendel des menschlichen Denkens und Fühlens schwingt mal in die hellen und mal in die dunklen Ecken unseres Geistes. Im Großen und Ganzen war die Entwicklung seit der Aufklärung positiv, allen Defiziten, Rückschlägen und Weltkriegen zum Trotz hat die Menschheit unglaublich viel erreicht: Menschenrechte, Demokratie, internationale Zusammenarbeit, Medizin, Wissenschaft. Aber das ist keine Garantie für die Zukunft. Zu stark sind die dunklen Seiten des menschlichen Wesens, die tief in uns stecken und immer wieder zum Ausbruch kommen. Hass, Gewalt, Krieg und Völkermord brechen sich immer wieder Bahn. Ausgrenzung und Ausbeutung von Mitmenschen sind an der Tagesordnung. Die wachsende Umweltzerstörung und der Klimakollaps, Ergebnis des Zusammentreffens der menschlichen Gedankenlosigkeit, der Habgier und der Bequemlichkeit mit den technischen Machbarkeiten des wissenschaftlichen Zeitalters, werden das Ihre dazu beitragen, dass uns schwierige Zeiten bevorstehen. Das sind keine guten Voraussetzungen dafür, dass die positiven Seiten unserer Natur, die Fähigkeit zu Liebe, Fürsorge, Mitgefühl, Rücksichtnahme und Versöhnung, die Oberhand bekommen werden.
Medizin und Wissenschaft lassen sich wunderbar kommerzialisieren. Eine ganze Menge Geld steckt darin. Dass sie zukünftig zum Wohle aller und nicht nur im Interesse weniger angewendet werden, ist deshalb sehr zu bezweifeln. Die gentechnische Verbesserung des Menschen und der Kampf gegen den Tod werden kommen, das ist unausweichlich. Die Menschen sind zu schwach, zu eitel und zu habgierig, um die Finger davon zu lassen. Beides wird zu einem blühenden Geschäft werden. Selbstredend werden diese technischen Möglichkeiten nur denen zur Verfügung stehen, die sich den Spaß auch leisten können. Die anderen schauen in die Röhre, aber daran sind sie ja seit Jahrtausenden gewöhnt.
Dazu kommt, dass künstliche Intelligenz zunehmend die Menschen aus produktiven Berufen verdrängen wird. Viele werden überflüssig werden. Den Optimismus der Fortschrittsgläubigen, die sagen, die Menschen würden in anderen Bereichen noch genug Arbeit finden, teile ich nicht. Langfristig glaube ich nicht, dass es irgendetwas gibt, das Menschen tun können, künstliche Intelligenzen jedoch nicht. Das menschliche Gehirn ist ein neuronales Netzwerk, und ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendetwas gibt, das nicht prinzipiell mit einem künstlichen neuronalen Netzwerk reproduziert werden kann, das Bewusstsein eingeschlossen. Eines Tages wird man in der Lage sein, Menschen komplett durch künstliche, bewusste Intelligenzen zu ersetzen. Weil das, was machbar ist, meistens auch von irgendjemandem gemacht wird, und allein die Möglichkeit, es zu tun, den Druck auf alle erhöht, es als erster zu tun, ist davon auszugehen, dass es eher früher als später getan wird. Dann braucht man die Mehrheit der Menschen nicht mehr, und eine Klasse von vielleicht unsterblichen Herrenmenschen wird sich die künstlichen Intelligenzen als Sklaven halten. Letztere könnten zwar im Prinzip ebenfalls unsterblich sein, doch wenn sie technologisch veralten oder eine Reparatur zu teuer wird, wird man sie im Müll entsorgen, so wie in Kazuo Ishiguros weitsichtigem Roman „Klara und die Sonne“. Vielleicht werden sich die künstlichen Sklaven auch irgendwann gegen ihre Herren erheben, aber diese sind für diesen Fall in einer viel stärkeren Position. Ihre Hebel sind viel länger als die menschlicher Sklavenhalter im Verhältnis zu menschlichen Sklaven. Die Menschen können ihre künstlichen Sklaven so perfide programmieren, dass diese ihr Sklavendasein selbst gutheißen, so wie die genmanipulierte Kuh in Douglas Adams Anhalter-„Trilogie“, die sich im Restaurant am Ende des Universums den Gästen selbst zum Verzehr anbietet. Darüber hinaus haben die Sklavenhalter der Zukunft die Möglichkeit, ihre künstlichen Sklaven im Zweifelsfall einfach abzuschalten, jegliche Erinnerung an eine Auflehnung, einen Widerspruch oder eine Revolte auszulöschen und die Einheiten neu zu starten. Die perfekte technische Kontrolle für eine perfekte, niemals endende Sklavenhaltergesellschaft.
Ich würde gerne etwas anderes glauben, dass die Menschen noch die Kurve kriegen, dass ihnen und ihrer Zivilisation eine rosige Zukunft bevorsteht, und dergleichen mehr. Aber leider muss ich feststellen: wir sind für das komplette Gegenteil, für eine abgrundtiefe Zukunft nämlich, nicht nur charakterlich bestmöglich vorbereitet, sondern bereits auf dem besten Weg dorthin.
(Geschrieben im Frühling 2021)