Mehr Tage oder mehr Leben?

Man hört es immer wieder: man soll dem Leben nicht unbedingt mehr Tage geben, sondern den Tagen mehr Leben. Klingt nach einem guten Spruch. Aber wie so oft bei gut klingenden Sprüchen ist es doch so: nicht alles was gut klingt, muss auch gut sein. Oft genug schaltet bei einem gut klingenden Spruch der Verstand ab. Manchmal ist man so besoffen von dem guten Klang eines Spruchs, dass sein Wahrheitsgehalt zweitrangig wird. Da drücken wir dann alle Hühneraugen zu. Es klingt einfach so schön, dass man es mit der Wahrheit nicht mehr so genau nehmen muss. Unglücklicherweise ist vor allem die schreibende Zunft von diesem Phänomen betroffen. So wird so mancher Leser mit halbgaren „Weisheiten“ gefüttert, die leider nur gut klingen, aber nicht wirklich durchdacht sind.

Um zu dem Spruch am Anfang zurückzukehren: wieso sollte man sich darauf fokussieren, den Tagen mehr Leben zu geben, warum nicht auch dem Leben mehr Tage? Beides sollte man doch erstreben. Das eine wie das andere. Dem Leben mehr Tage und den Tagen mehr Leben. Jeder neue Tag ist eine Chance, das Glas des Lebens ein bisschen weiter zu füllen. Als Mensch weiter zu reifen. Und das sollte man tun, solange es irgend möglich ist.

Menschenkenntnis

Die Dänen sind geiziger als die Italiener. Die spanischen Frauen geben sich leichter der verbotenen Liebe hin als die deutschen. Alle Letten stehlen. Alle Bulgaren riechen schlecht. Rumänen sind tapferer als Franzosen. Russen unterschlagen Geld. Das ist alles nicht wahr — wird aber im nächsten Kriege gedruckt zu lesen sein.

Kurt Tucholsky

Ehrlichkeit ist eine Zier …

… doch besser lebt man ohne ihr?

Ein kleiner Beschiss geht immer. Nach diesem Prinzip leben nicht wenige Leute. Auch im Bürgertum, das sich oft so moralisch erhaben gibt, hat man ein Faible für diese heimliche Maxime. Für andere gerne mal Law and Order fordern, aber selbst bei der Steuererklärung a bisserl bescheißen — es gibt Leute, für die das kein Widerspruch ist. Manch einer betrachtet es quasi als einen Akt der Selbstverteidigung gegen einen als gierig empfundenen Staat, bei der Steuer ein wenig zu „tricksen“.  Dabei ist es wohl eher der pure Egoismus und die nackte Habgier, die hier zum Vorschein kommen. Aber so viel Ehrlichkeit sich selbst gegenüber darf man getrost vergessen. Mit dem Bild vom gierigen Staat lebt es sich deutlich leichter als mit einem ehrlichen Selbstbild.

Oder ein anderes Beispiel: wenn einer in einer Prüfung betrügt oder bei der Doktorarbeit ganze Seiten bei anderen Autoren klaut, dann sollte man das doch nicht zu einem Problem aufbauschen. So etwas hat doch jeder schon mal gemacht. Und: Man sollte nicht alles auf die Goldwaage legen. Für derlei Vergehen hat man auch im Bürgertum gerne mal Verständnis. Ein kleiner Beschiss geht eben immer. Aber wenn einer im Laden etwas klaut, soll der Staat seine ganze Härte zeigen. Bescheißen dürfen eben nur die Besitzenden und „Gebildeten“. Die anderen sollen sich gefälligst an die Gesetze halten. Einer muss es ja schließlich tun, wenn man es schon selbst nicht macht.

Die Atomisierung der Gesellschaft überwinden

Ein zentrales Problem der heutigen Zeit besteht darin, dass die Menschen nicht mehr richtig zusammen halten. Jeder steht mehr oder weniger für sich allein. Das ist das konsequente Ergebnis der neoliberalen Denkweise, die sich so vollständig über unsere Köpfe hergemacht hat, dass wir es kaum mehr bemerken. Sie war auf ganzer Linie erfolgreich damit, die Gesellschaft in einzelne Individuen zu atomisieren. Ganz nach dem Credo des Thatcherismus, der frech behauptet: There is no such thing as society. Seitdem glauben wir, dass es besser ist, wenn sich jeder um sich selber kümmert. In dieser Vorstellung gibt es nur noch einzelne Individuen, die miteinander interagieren, bestenfalls noch Familien, aber ein Gemeinwesen, das diesen Namen verdient, gibt es nicht mehr.

Eine solche Sichtweise hilft jenen Individuen, die über Macht verfügen, sei es politisch, ökonomisch, weltanschaulich oder in anderer Form, während die vielen  Machtlosen und Ohnmächtigen, die diesen Globus bevölkern, in die Röhre schauen. Wenn die Gesellschaft nur noch aus einzelnen, zusammenhaltlosen Individuen besteht, sind die Mächtigen im Vorteil gegenüber den weniger Mächtigen oder den Ohnmächtigen, auch wenn deren Zahl sehr viel größer ist. Ihre schiere Anzahl ist völlig irrelevant, denn solange sie nicht zusammenstehen, bleiben sie machtlos. Die Atomisierung der Gesellschaft kommt also den Mächtigen sehr zupass, und weil sich die Politik im Zuge der Marktradikalisierung zunehmend selbst entmachtet, handelt es sich bei den Mächtigen insbesondere um die ökonomisch Mächtigen. Das kann auch nicht weiter überraschen, da der Neoliberalismus generell die Tendenz hat, die ökonomisch Mächtigen noch mächtiger zu machen als sie es ohnehin schon sind.

Da die Macht in den Händen von wenigen konzentriert ist, haben diese Einfluss und treffen die Entscheidungen. Entscheidungen, die unser aller Leben und unsere Zukunft bestimmen. Es ist ein absolut anti-demokratisches Programm. Die Mehrheit ist durch die gelungene Atomisierung der Gesellschaft und durch die Selbstkastration der Politik praktisch entmachtet. Dabei könnte die Mehrheit ihre Macht ganz leicht zurückgewinnen und der Entwicklung eine andere Richtung geben. Aber solange sie in einzelne Individuen zerfällt, die nicht zusammenstehen, bleibt diese Macht nur hypothetisch. Sie kann nicht zur Entfaltung kommen.

Unsere einzige Hoffnung besteht darin, die Atomisierung der Gesellschaft zu überwinden. Statt nur unser privates Glück zu suchen, müssen wir wieder füreinander einstehen und ein echtes Gemeinwesen bilden. Auf dem Fundament universeller Grundrechte, nach dem Prinzip „Einer für alle, alle für einen“. Jeder einzelne setzt sich nach seinen Möglichkeiten für das Ganze ein, und das Ganze respektiert jeden Einzelnen und fördert ihn in seiner Entwicklung als Individuum und Persönlichkeit. Dabei ist klar, dass keine der beiden Seiten das Verhältnis dominieren darf. Weder darf die Gesellschaft das Individuum dominieren, noch das Individuum die Gesellschaft. Ein ausgewogenes Verhältnis der beiden ist unabdingbar. Einen Absolutheitsanspruch einer der beiden Seiten — wie er seit Jahrzehnten aggressiv vorgetragen wird — darf es nicht geben.

Büste von Sophie Scholl an der LMU München. Ich hoffe, es wird nie wieder nötig sein, dass wir so viel Mut aufbringen müssen wie die Mitglieder der Weißen Rose. Aber ausgemacht ist das keineswegs. Vielleicht wird uns ihr Mut und ihre Prinzipientreue noch einmal mahnend vor Augen stehen.

Leider nur im Traum

Deutsche Kanzlerin: wir brauchen keine marktkonforme Demokratie, sondern demokratiekonforme Märkte.

Leider nur im Traum.

Die liberale Partei will nicht die Märkte befreien, sondern die Menschen. Staatliche Macht darf nicht durch ökonomische Macht ersetzt werden.

Leider nur im Traum.

Die Menschen wollen nicht mehr den ökonomischen Darwinismus entfesselter Märkte. Märkte werden endlich gezähmt, damit sie allen zugute kommen.

Leider nur im Traum.

Wieder mehr Vernunft wagen

Es gibt Leute, die so tun, als ob Freihandel per se etwas Gutes und Protektionismus immer etwas Schlechtes wäre. Aber so einfach ist die Welt nicht. Freihandel muss nicht gut sein, und Protektionimus ist nicht notwendigerweise schlecht. Es kommt darauf an. Darauf nämlich, ob der Freihandel zu unfairen Verhältnissen führt (oder sogar die Demokratie untergräbt), und ob der Protektionismus darauf angelegt ist, vor unfairen Verhältnissen zu schützen.

Freilich ist in der Realität meist weder der Protektionismus noch der Freihandel darauf angelegt, unfaire Verhältnisse zu verhindern. In der Regel geht es bei beiden darum, ihre jeweiligen ökonomischen Vorteile äußerst ungleich unter den Menschen zu verteilen. Es gibt Gewinner und Verlierer. Fairness spielt dabei keine Rolle. Das Füllen von Konten und Geldbeuteln auf der Gewinnerseite schon eher.

Das gilt für den internationalen Handel insgesamt, auch jenseits von Freihandel und Protektionismus. Beim Welthandel verläuft die Grenze zwischen Gewinnern und Verlierern nicht entlang von Landesgrenzen, sondern quer durch ganze Gesellschaften. Gewinner des Welthandels sind vor allem die internationalen Konzerne, die dort fertigen lassen, wo die Löhne niedrig und die Bestimmungen für Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Umweltschutz und Menschenrechte entweder von vorneherein lax sind oder nur auf dem Papier bestehen, aber in der Praxis nicht eingehalten werden. Außerdem profitieren die lokalen Eliten davon, die als Warenproduzenten im Auftrag der Konzerne Kasse machen oder sich als Politiker und Beamte bestechen lassen, etwa wenn es darum geht, beim Arbeits- oder beim Umweltschutz ein Auge zuzudrücken (oder zwei). Diese Bereicherung geschieht auf Kosten der Arbeiterinnen und Arbeiter, die unter Bedingungen schuften, die ihre Gesundheit zerstören, und die von den Gefahren ihrer Arbeit oftmals gar nichts wissen, weil sie ungebildet sind und dieser Zustand gezielt ausgenutzt wird. Verlierer sind auch die Menschen in den Industriestaaten, die ihre Arbeit verlieren, weil sie nicht mit Arbeitern in Entwicklungsländern konkurrieren können, in denen viel geringere Sozial- und Umweltstandards herrschen. Sie werden durch den Welthandel in einen unfairen Wettbewerb hineingezwungen, den sie nur verlieren können.

Die Tendenz zu mehr Freihandelsabkommen macht diese Situation nicht besser, sondern schlechter. Manche Leute halten ja den Freihandel für eine gute Sache, weil darin das Wörtchen „frei“ vorkommt. Wer aber denkt, dass es beim Freihandel darum geht, die Menschen zu befreien, unterliegt einem folgenschweren Irrtum. Beim Freihandel geht es um die Befreiung der Marktkräfte von jeglicher demokratischer Regulierung, nicht um die Befreiung der Menschen unabhängig von ihrer ökonomischen Macht oder Machtlosigkeit. Die Befreiung der Marktkräfte nützt aber zu allererst den ökonomisch Starken und Mächtigen, während die Schwachen und Ohnmächtigen mit einem Füllhorn von Nachteilen „beglückt“ werden. An die Stelle demokratischer Macht und Herrschaft tritt ökonomische Macht und Herrschaft. Befreiung sieht anders aus. Durch den Wegfall von Handelshemmnissen und durch Deregulierungen wird der globale Wettbewerb „Jeder gegen jeden“ noch härter und hemmungsloser als jemals zuvor.

Was muss sich also ändern? Der Welthandel muss grundlegend neu gedacht und neu gemacht werden. Handelsverträge dürfen nicht um das Prinzip des Freihandels kreisen wie um das goldene Kalb, sondern um das Prinzip der Fairness für alle Beteiligten. Das freie Spiel der Kräfte produziert keine Fairness. Das freie Spiel der Kräfte hilft den Starken, die Schwachen über den Tisch zu ziehen. Handelsverträge müssen so ausgestaltet werden, dass unfairer Wettbewerb, Ausbeutung und Bereicherung unterbunden und Menschenrechte gewahrt werden. Insbesondere bei asymmetrischen Verhältnissen, zwischen starken und schwachen Partnern, ist das unerlässlich. Das Ziel muss eine win-win-Situation sein, von der alle Beteiligten angemessen profitieren. Es darf nicht Gewinner geben, die den Nutzen einstreichen, während andere mit ihrer Gesundheit oder mit ihrem Leben dafür bezahlen. Der Welthandel muss den Schutz der Menschenrechte garantieren.

Statt den Handel und die wirtschaftliche Entwicklung einfach dem freien Spiel der Kräfte und damit dem Wirken brutaler darwinistischer Prinzipien zu überlassen, die vor allem den Starken nützen und den Schwachen schaden, sollte wieder die Vernunft das Primat über die Politik und die Wirtschaft zurückerlangen. Vernünftige Handelsverträge müssen den Schwachen eine Entwicklungsmöglichkeit geben, ohne Gesundheit und Umwelt zu ruinieren, ohne dass sie arbeiten müssen bis zum Umfallen. Gleichzeitig müssen sie den Arbeitern in den Industrieländern eine Möglichkeit geben, ihre Jobs zu behalten, beispielsweise durch Einfuhrkontingente, die den schwächeren Ländern eine Entwicklungschance eröffnen, ohne die Arbeitsplätze in den Industrieländern en gros zu gefährden. Dann kann ein allmählicher Strukturwandel einsetzen, der ohne soziale Verwerfungen zu einer positiven, angeglichenen Entwicklung der beteiligten Länder führt. Das freie Spiel der Kräfte hingegen führt zu disruptiven Verwerfungen, die den Starken und einigen wenigen Glücksrittern nützen, aber die Schwachen zahlen die Zeche. Eine vernünftige Entwicklung sieht anders aus.

Eine vernünftige Entwicklung fragt: wo wollen wir hin? Wie wollen wir leben? Als Menschen unter Menschen auf einem kleinen, zerbrechlichen Planeten. Und sie wählt mit Bedacht die Mittel, die nötig oder geeignet erscheinen, dieses Ziel zu erreichen. Viele Leute sagen, die Vernunft des Menschen sei zu beschränkt, als dass das gelingen könnte. Ich stimme zu, dass die Vernunft beschränkt ist, ja, dass die Unvernunft auf dem ganzen Planeten grassiert und fröhliche Parties feiert. Aber das Schicksal der Welt dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen ist keine Alternative. Das führt uns noch tiefer in die Barbarei. Das freie Spiel der Kräfte ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Trotz aller menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten sind wir zur Vernunft fähig und sollten uns dieser Fähigkeit wieder bewusst werden. Wir sollten unser Licht nicht unter den Scheffel stellen.

Frühere Zeiten waren da weitaus mutiger als wir. Ihre Rufe klingen wie ein dünnes Echo durch die Zeit. Sapere aude! , so lautete ihr Wahlspruch. Lieber Mensch, habe Mut, dich wieder deiner Vernunft zu bedienen! Gestalte deine Zukunft, mit Verstand und mit Herz! Lege dein Schicksal nicht in die Hände blinder, darwinistischer Prinzipien. Mache dich nicht zum Spielball freier, entfesselter Gewalten.

 

Spaziergang in Traben-Trarbach an der Mosel: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Statt in bayrischen Behörden Kruzifixe aufzuhängen, sollte man dort und andernorts die Grundrechte in Erinnerung rufen, die im Moment eher in unseren Verfassungstexten vor sich hin schlummern. Dann würden nicht nur die Bürger, sondern auch die Staatsdiener mal wieder daran erinnert, was eigentlich die Grundlage unseres Zusammenlebens ist. Das Kreuz ist es jedenfalls nicht.