Es gibt Leute, die so tun, als ob Freihandel per se etwas Gutes und Protektionismus immer etwas Schlechtes wäre. Aber so einfach ist die Welt nicht. Freihandel muss nicht gut sein, und Protektionimus ist nicht notwendigerweise schlecht. Es kommt darauf an. Darauf nämlich, ob der Freihandel zu unfairen Verhältnissen führt (oder sogar die Demokratie untergräbt), und ob der Protektionismus darauf angelegt ist, vor unfairen Verhältnissen zu schützen.
Freilich ist in der Realität meist weder der Protektionismus noch der Freihandel darauf angelegt, unfaire Verhältnisse zu verhindern. In der Regel geht es bei beiden darum, ihre jeweiligen ökonomischen Vorteile äußerst ungleich unter den Menschen zu verteilen. Es gibt Gewinner und Verlierer. Fairness spielt dabei keine Rolle. Das Füllen von Konten und Geldbeuteln auf der Gewinnerseite schon eher.
Das gilt für den internationalen Handel insgesamt, auch jenseits von Freihandel und Protektionismus. Beim Welthandel verläuft die Grenze zwischen Gewinnern und Verlierern nicht entlang von Landesgrenzen, sondern quer durch ganze Gesellschaften. Gewinner des Welthandels sind vor allem die internationalen Konzerne, die dort fertigen lassen, wo die Löhne niedrig und die Bestimmungen für Arbeitsrecht, Arbeitsschutz, Umweltschutz und Menschenrechte entweder von vorneherein lax sind oder nur auf dem Papier bestehen, aber in der Praxis nicht eingehalten werden. Außerdem profitieren die lokalen Eliten davon, die als Warenproduzenten im Auftrag der Konzerne Kasse machen oder sich als Politiker und Beamte bestechen lassen, etwa wenn es darum geht, beim Arbeits- oder beim Umweltschutz ein Auge zuzudrücken (oder zwei). Diese Bereicherung geschieht auf Kosten der Arbeiterinnen und Arbeiter, die unter Bedingungen schuften, die ihre Gesundheit zerstören, und die von den Gefahren ihrer Arbeit oftmals gar nichts wissen, weil sie ungebildet sind und dieser Zustand gezielt ausgenutzt wird. Verlierer sind auch die Menschen in den Industriestaaten, die ihre Arbeit verlieren, weil sie nicht mit Arbeitern in Entwicklungsländern konkurrieren können, in denen viel geringere Sozial- und Umweltstandards herrschen. Sie werden durch den Welthandel in einen unfairen Wettbewerb hineingezwungen, den sie nur verlieren können.
Die Tendenz zu mehr Freihandelsabkommen macht diese Situation nicht besser, sondern schlechter. Manche Leute halten ja den Freihandel für eine gute Sache, weil darin das Wörtchen „frei“ vorkommt. Wer aber denkt, dass es beim Freihandel darum geht, die Menschen zu befreien, unterliegt einem folgenschweren Irrtum. Beim Freihandel geht es um die Befreiung der Marktkräfte von jeglicher demokratischer Regulierung, nicht um die Befreiung der Menschen unabhängig von ihrer ökonomischen Macht oder Machtlosigkeit. Die Befreiung der Marktkräfte nützt aber zu allererst den ökonomisch Starken und Mächtigen, während die Schwachen und Ohnmächtigen mit einem Füllhorn von Nachteilen „beglückt“ werden. An die Stelle demokratischer Macht und Herrschaft tritt ökonomische Macht und Herrschaft. Befreiung sieht anders aus. Durch den Wegfall von Handelshemmnissen und durch Deregulierungen wird der globale Wettbewerb „Jeder gegen jeden“ noch härter und hemmungsloser als jemals zuvor.
Was muss sich also ändern? Der Welthandel muss grundlegend neu gedacht und neu gemacht werden. Handelsverträge dürfen nicht um das Prinzip des Freihandels kreisen wie um das goldene Kalb, sondern um das Prinzip der Fairness für alle Beteiligten. Das freie Spiel der Kräfte produziert keine Fairness. Das freie Spiel der Kräfte hilft den Starken, die Schwachen über den Tisch zu ziehen. Handelsverträge müssen so ausgestaltet werden, dass unfairer Wettbewerb, Ausbeutung und Bereicherung unterbunden und Menschenrechte gewahrt werden. Insbesondere bei asymmetrischen Verhältnissen, zwischen starken und schwachen Partnern, ist das unerlässlich. Das Ziel muss eine win-win-Situation sein, von der alle Beteiligten angemessen profitieren. Es darf nicht Gewinner geben, die den Nutzen einstreichen, während andere mit ihrer Gesundheit oder mit ihrem Leben dafür bezahlen. Der Welthandel muss den Schutz der Menschenrechte garantieren.
Statt den Handel und die wirtschaftliche Entwicklung einfach dem freien Spiel der Kräfte und damit dem Wirken brutaler darwinistischer Prinzipien zu überlassen, die vor allem den Starken nützen und den Schwachen schaden, sollte wieder die Vernunft das Primat über die Politik und die Wirtschaft zurückerlangen. Vernünftige Handelsverträge müssen den Schwachen eine Entwicklungsmöglichkeit geben, ohne Gesundheit und Umwelt zu ruinieren, ohne dass sie arbeiten müssen bis zum Umfallen. Gleichzeitig müssen sie den Arbeitern in den Industrieländern eine Möglichkeit geben, ihre Jobs zu behalten, beispielsweise durch Einfuhrkontingente, die den schwächeren Ländern eine Entwicklungschance eröffnen, ohne die Arbeitsplätze in den Industrieländern en gros zu gefährden. Dann kann ein allmählicher Strukturwandel einsetzen, der ohne soziale Verwerfungen zu einer positiven, angeglichenen Entwicklung der beteiligten Länder führt. Das freie Spiel der Kräfte hingegen führt zu disruptiven Verwerfungen, die den Starken und einigen wenigen Glücksrittern nützen, aber die Schwachen zahlen die Zeche. Eine vernünftige Entwicklung sieht anders aus.
Eine vernünftige Entwicklung fragt: wo wollen wir hin? Wie wollen wir leben? Als Menschen unter Menschen auf einem kleinen, zerbrechlichen Planeten. Und sie wählt mit Bedacht die Mittel, die nötig oder geeignet erscheinen, dieses Ziel zu erreichen. Viele Leute sagen, die Vernunft des Menschen sei zu beschränkt, als dass das gelingen könnte. Ich stimme zu, dass die Vernunft beschränkt ist, ja, dass die Unvernunft auf dem ganzen Planeten grassiert und fröhliche Parties feiert. Aber das Schicksal der Welt dem freien Spiel der Kräfte zu überlassen ist keine Alternative. Das führt uns noch tiefer in die Barbarei. Das freie Spiel der Kräfte ist nicht Teil der Lösung, sondern Teil des Problems. Trotz aller menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten sind wir zur Vernunft fähig und sollten uns dieser Fähigkeit wieder bewusst werden. Wir sollten unser Licht nicht unter den Scheffel stellen.
Frühere Zeiten waren da weitaus mutiger als wir. Ihre Rufe klingen wie ein dünnes Echo durch die Zeit. Sapere aude! , so lautete ihr Wahlspruch. Lieber Mensch, habe Mut, dich wieder deiner Vernunft zu bedienen! Gestalte deine Zukunft, mit Verstand und mit Herz! Lege dein Schicksal nicht in die Hände blinder, darwinistischer Prinzipien. Mache dich nicht zum Spielball freier, entfesselter Gewalten.