Was ist Aufklärung?
Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.
Immanuel Kant
Es wird ja gerne so getan, als ob die Aufklärung eine abgeschlossene Sache sei, ein längst vergangener Vorgang in der Geschichte, unser Erbe, dessen Früchte wir heute alle frisch und frei genießen könnten. Tatsächlich ist die Aufklärung aber noch lange nicht vorbei. Ja, sie braucht sogar dringend einen neuen Schub, denn die Probleme, unter denen die Welt leidet, zeigen ganz eindeutig, wie wenig aufgeklärt unsere heutige Zeit tatsächlich ist.
Die Aufklärung ist eines der bedeutendsten Projekte der Menschheit. Ihre Anfänge liegen in einer Zeit, in der der Mensch der Herrschaft des Adels und der Kirche unterworfen war und einer Vielzahl von Dogmen gehorchen musste. Von allen Seiten wurde ihm eingebleut, was er zu glauben und zu tun hatte. Das Ziel der Aufklärung war kein geringeres, als den Menschen aus solcher Unmündigkeit und Gängelei zu befreien.
Zwar ist die Macht des Adels und der Kirche inzwischen gebrochen, aber Herrschaft und Dogmen gibt es auch heute noch. Man kann sogar sagen, dass man sie niemals endgültig beseitigen kann, da sie selbst nach erfolgter Beseitigung die Tendenz haben, mit der Zeit, besonders im Wechsel der Generationen, durch allerlei Ritzen und Fugen in das Leben der Menschen zurückzusickern. Allein deshalb schon ist Aufklärung ein niemals endender Prozess, denn eine neue Generation muss stets von neuem gegen die Versprechungen politischer Kreise und gegen die Verlockungen einfacher Glaubenssätze geistig imprägniert werden.
Um das Ziel der Aufklärung zu erreichen, wird der Mensch dazu aufgerufen, den eigenen Verstand zu benutzen und selbstständig über die Welt und seinen Platz darin nachzudenken. Allerdings reicht die bloße Ermutigung dazu nicht aus. Letztlich muss man die Menschen auch dazu in die Lage versetzen, ihren Verstand zu benutzen. Das ist die Aufgabe einer im Geist der Aufklärung wirksamen Bildung. Zwar ist das Ziel, dass sich jeder seines Verstandes ohne die Anleitung eines anderen bedienen soll, aber dorthin kommt man im Allgemeinen nicht ohne Bildung. Sie ist der wesentliche Schlüssel zu einer aufgeklärten Mündigkeit. Letztere ist wie eine empfindliche Pflanze, die selten von alleine wächst, sondern Pflege braucht und von Generation zu Generation immer wieder neu gepflanzt werden muss.
Aber auch Bildung alleine ist noch nicht genug. Zusätzlich müssen auch die meinungsbildenden Akteure in einer Gesellschaft den Geist der Aufklärung verinnerlichen, und das bedeutet insbesondere, dass zweckgerichtete Manipulationen dessen, was die Menschen denken und denken sollen, unterbleiben. Gemeint sind damit in der heutigen Zeit vor allem die Medien, die ihre Nutzerinnen und Nutzer leider nicht immer vollständig und wahrheitsgemäß aufklären, sondern mitunter auch manipulieren wollen. Das tun sie zum Beispiel, indem sie den Manipulierten einen wesentlichen Teil der Wahrheit vorenthalten und ihnen zweckmäßig konstruierte Zerrbilder der Realität präsentieren. Solche Medien missbrauchen ihre publizistische Macht. Sie sind Akteure einer Gegenaufklärung, die jeder Aufklärung zuwiderläuft.
Insofern hatte es sich Immanuel Kant in dem eingangs angeführten Zitat zu einfach gemacht, als er sich nur auf die selbstverschuldete Unmündigkeit bezog. Tatsächlich gibt es neben der selbstverschuldeten auch eine fremdverschuldete, durchaus auch mit Absicht herbeigeführte Unmündigkeit, die nicht wenigter schlimm und real ist wie die selbstverschuldete. Diese muss ebenfalls berücksichtigt und effektiv bekämpft werden, um das Projekt der Aufklärung zu befördern. Aufklärung ist daher nicht nur etwas, das das Individuum von sich aus alleine leisten kann, wie das Zitat von Kant suggeriert, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die nicht nur den Bereich der Bildung umfasst, sondern auch Akteure betrifft, die an Aufklärung kein Interesse haben, ja aktiv Gegenaufklärung betreiben.
Nun kann man natürlich auch Bildung so gestalten, dass sie jede Aufklärung verhindert. Auch Bildung kann manipulieren und gegenaufklärerisch wirken. Daher ist es entscheidend, sicherzustellen, dass die Bildung die Aufklärung unterstützt, indem sie das Individuum tatsächlich in die Lage versetzt, seinen Verstand ohne weitere Leitung selbstständig zu verwenden. Das ist das eine. Es kommt in Bezug auf die Bildung aber noch etwas anderes dazu, das Kant sicherlich mitgedacht hat, das aber bislang doch sträflich vernachlässigt wurde. Der aufgeklärte, mündige Mensch muss nämlich nicht nur wissen, dass er seinen eigenen Verstand benutzen kann und soll, sondern auch, wo bei diesem Unterfangen die Stolperfallen liegen. Oder genauer gesagt: wo der Verstand seine Grenzen hat.
Dass der Verstand Grenzen hat, dass es grundsätzliche Grenzen der Erkenntnisfähigkeit gibt, ist offensichtlich. Das hat auch und gerade Kant hinreichend thematisiert. Dennoch wird diese offensichtliche Tatsache gerne verdrängt und so getan, als ob es sie nicht gäbe. Das Ergebnis ist, dass der denkende Mensch sein Denken gerne frei drehen lässt, wobei jedoch selten etwas Sinnvolles herauskommt, oder etwas, das an die Realität auch nur im Entferntesten heranreicht. Eine kritische Einstellung gegenüber dem eigenen Denken ist daher unerlässlich. Aus diesem Grund kann es eine echte Aufklärung nur durch die selbstkritische Verwendung des Verstandes geben, bei der auch seine Grenzen wie selbstverständlich berücksichtigt werden.
Man kann den Verstand sehr leicht falsch verwenden, indem man die prinzipiellen Grenzen der Erkenntnisfähigkeit ignoriert. Nichts ist leichter als das. Der Verstand kann Überzeugungen und Glaubenssätze produzieren, die völlig falsch sind, und trotzdem alle haarklein mit einem pseudorationalen Fundament untermauern. Die menschliche Geistesgeschichte ist voll von Beispielen. Wir sind sehr kreativ darin, scheinbar vernünftige und zwingende Gründe für völlig falsche Ansichten zu konstruieren.
Das soll freilich nicht bedeuten, dass der Mensch gar nicht mehr selbst denken und das Denken besser den Experten überlassen soll. Denn die Grenzen der Erkenntnis gelten selbstverständlich auch für die Experten. Und es ist leider eine Tatsache, dass die weitaus meisten Experten diese Grenzen nicht ernsthaft berücksichtigen. Das sage ich aus eigener Erfahrung als Experte, die ich immer wieder mit anderen Experten gemacht habe. Die allermeisten Fachleute gehen davon aus, dass ihr Expertentum sie zweifellos auf den Pfad der Wahrheit führt. Das darf aber durchaus angezweifelt werden. Auch das Expertentum ist über grundsätzliche Zweifel nicht erhaben. Auch Experten können sich irren. Auch sie können die grundsätzlichen Grenzen des Denkens nicht aushebeln.
Aufklärung bedeutet also auch, stets die Grenzen, die dem Denken von Natur aus gesetzt sind, mitzudenken. Das Ziel ist, nicht nur die selbstverschuldete, sondern auch die fremdverschuldete Unmündigkeit zu beenden. Der Mut zum eigenständigen Denken ist dafür unerlässlich, doch braucht es daneben auch eine aufklärerische Bildung, damit weite Kreise die Fähigkeit zu eigenständigem, kritischem und selbstkritischem Denken erlangen. Leider sind wir noch weit davon entfernt, diese Ziele zu erreichen. Dafür bräuchte es jetzt dringend einen neuen Anlauf, eine neue Anstrengung zur Aufklärung.
Und noch etwas anderes wird dringend benötigt, das über das reine Denken hinausgeht. Und das ist die Empathie. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, mit ihnen mitzufühlen. Für die Gesundung der Menschheit braucht es nicht nur Verstand, sondern auch Herz und Mitgefühl. Die Aufklärung muss sich auch dafür öffnen. Denken alleine kann nicht alle unsere Probleme lösen. Ohne Empathie und Aussöhnung werden wir keine Menschheit werden. Vielleicht werden wir noch nicht einmal mehr eine Zukunft haben. Mit dem Verstand und der Empathie haben wir jedoch zwei wirkungsvolle, einander ergänzende Mittel in der Hand, mit denen wir eine bessere Zukunft gestalten können. Mit ihnen sind wir nicht machtlos. Wir müssen nur den Mut und die Entschlossenheit haben, sie zum Wohl aller Menschen, ja des ganzen Planeten zu verwenden.