Sind die Menschenrechte eine Erfindung?

Manche Leute lehnen die Menschenrechte ab — mit der Begründung, sie seien eine Erfindung. Die Menschenrechte seien nicht real. Nur was real sei, zähle. Nur die Macht und die Gewalt seien real. Sie meinen deshalb, dass Staaten sich gegenseitig dominieren und jeweils ihre eigenen Interessen durchsetzen sollen, auch wenn das die Verletzung von Menschenrechten bedeutet. Man könnte auch sagen: nicht die Würde des Menschen, sondern die Herrschaft des Stärkeren ist unantastbar.

So sehr ich diese zynische und menschenverachtende Position auch ablehne, muss ich doch feststellen, dass diese Leute in einem Punkt recht haben: die Menschenrechte sind tatsächlich eine Erfindung. Sie sind eine Idee, die von Menschen entwickelt wurde, damit jeder Mensch ein menschenwürdiges, so weit wie möglich selbstbestimmtes und letzten Endes nach seinen persönlichen Maßstäben erfülltes Leben führen kann. Ohne die Menschen oder eine andere, ethisch handelnde Lebensform gäbe es diese Rechte nicht. Es gäbe gar kein Recht. Recht besteht in der Kultur. Wenn man also Kultur als Gegensatz zur Natur begreift, gibt es in der Natur kein Recht.

Die Menschenrechte sind also eine Erfindung, aber das heißt nicht, dass sie deshalb etwas Unnützes oder gar Wertloses sind. Im Gegenteil: die Menschenrechte sind eine der größten Errungenschaften der Menschheitsgeschichte. Eine herausragende zivilisatorische Leistung, die den Menschen aus dem Zustand der Barbarei herausführt. Eine Leistung, auf die wir zu recht stolz sein können.

Darüber hinaus ist es ein Trugschluss, zu denken, die Menschenrechte seien nicht real, nur weil sie eine Erfindung sind. Die Menschenrechte sind eine Idee, und auch Ideen sind real. Ideen existieren in diesem Universum, in den Bewußtseinen und Aufzeichnungen von denkenden Wesen, und sind deshalb nicht weniger real als irgendetwas anderes, das existiert. Die Menschenrechte sind real in den Köpfen der Menschen, in den Büchern, in denen sie niedergeschrieben wurden, und sie leiten menschliches Handeln im wirklichen Leben.

Im Übrigen ist auch der Gedanke, die Menschen sollten die Menschenrechte vergessen und sich einfach an Macht und Gewalt halten, nichts anderes als eine Erfindung. Wie jede Soll-Regel im subjektiven Denken des Einzelnen existiert, nicht aber als objektive Wahrheit in der äußeren Welt, so gilt das auch für diese Regel. Im Gegensatz zu den Menschenrechten handelt es sich hier jedoch um eine schlechte Erfindung. Es gibt nämlich auch im Reich der Ideen nicht nur gute, sondern auch schlechte Einfälle. (Was man für gut und schlecht hält, ist natürlich immer subjektiv. Dennoch folgt aus der Subjektivität von Werten nicht, dass wir alle Werte für völlig gleichwertig halten müssen. Gerade weil Werte subjektiv sind, kann ich zu den meinen stehen und sie sogar von anderen einfordern. Wie vernünftig letzteres ist, und ob es nicht besser wäre, dafür zu werben, die eigenen Werte in eine allgemeine Norm einfließen zu lassen, steht auf einem anderen Blatt.)

Natürlich könnte man jetzt entgegnen: wenn die von Menschen erdachten Menschenrechte real sind, dann muss auch Gott (oder irgendetwas anderes, das Menschen sich ausdenken) real sein. Doch auch hier liegt ein Trugschluss vor. Gott als Idee ist real, solange sie in den Köpfen oder in den Aufzeichnungen der Menschen existiert, aber über Gott als Person, die dies und jenes getan haben soll, ist damit noch nichts gesagt. Die Person Gott muss nicht real sein. Der Unterschied ist, dass die Menschenrechte von vorneherein eine Idee sind, Gott aber soll im Idealfall keine Idee sein, sondern eine existierende Person. Und über letztere wird hier keine Existenzaussage getroffen.

Darauf könnte man entgegnen, dass dann zwar die Idee der Menschenrechte real sei, die Menschenrechte selbst aber vielleicht nicht. So wie die Idee Gottes real ist, aber Gott selbst vielleicht nicht. Während es jedoch zwischen Gott als Idee und Gott als Person einen wesentlichen Unterschied gibt, gibt es diesen nicht zwischen der Idee konkreter Menschenrechte und ebendiesen Menschenrechten selbst. Denn die Menschenrechte sind eine Idee, sie sind nichts Materielles, keine Person oder ein Gegenstand, sie existieren nicht außerhalb des menschlichen Denkens. Die Idee konkreter Menschenrechte und diese Menschenrechte selbst sind ein und dasselbe. Und selbst wenn man dem nicht folgen will, so gehören sie doch zumindest der gleichen Kategorie an, nämlich den Ideen. Als solche sind sie real, solange Menschen sie vertreten, oder solange Aufzeichnungen darüber existieren.