Welche Art von Menschen wollen wir sein?
Die Welt befindet sich in einem Umbruch. Vielerorts machen sich autoritäre Bewegungen breit, die Demokratie ist in einer Krise. Völkisch-nationalistische Vorstellungen auf der einen und marktradikale Ideen auf der anderen Seite, nicht selten im Verein miteinander, bedrohen die Demokratie von innen. Während die einen eine völkisch-autoritäre Herrschaft installieren wollen — mit einem starken Mann an der Spitze, der die Lösung aller Probleme verspricht — arbeiten die anderen schon seit Jahrzehnten höchst erfolgreich an einer Aushöhlung der Demokratie, mit dem Ziel, demokratische Spielregeln für den Einzelnen weitestgehend abzuschaffen und die Menschen einem ganz und gar undemokratischen Markt zu unterwerfen.
Weder die Vertreter ultrarechter noch die Anhänger marktradikaler Weltbilder sind Freunde der Demokratie. Bei allen Unterschieden im Detail haben sie eine weitere wesentliche Gemeinsamkeit: sie teilen den Fetisch der Stärke. Die einen im nationalen, völkischen, rassischen Sinn, die anderen im individuellen, privaten, ökonomischen Sinn. Stärke und Schwäche werden von den einen der Nation, dem „Volk“ oder der „Rasse“ zugeschrieben, von den anderen zum Nutzen bzw. zum Schaden des Individuums privatisiert. Beide halten das Leben prinzipiell für einen Kampf. Der Mensch wird zu einem Tier, das gegen andere Menschentiere kämpfen und sich gegen sie behaupten muss. Gegen Zuwanderer im einen, gegen Marktkonkurrenten im anderen Fall.
Freilich wird auf dem freien Markt nicht von Kampf, sondern feiner von Wettbewerb gesprochen. Das ändert jedoch nichts am Kern der Sache. Auf dem freien Markt muss jeder sehen, wo er bleibt. Die Konkurrenz schläft nicht. Das Individuum ist gezwungen, einen niemals endenden Wettkampf um einen Platz an der Sonne zu führen. Einen Kampf, der in erster Linie auf ökonomischem Gebiet stattfindet, der aber auch handfeste Auswirkungen auf das Leben des Einzelnen hat, bis hin zur Lebenserwartung. Wer den Kampf verliert, hat gute Chancen, früher zu sterben. Gute Bildung, gesundes Essen und eine gute Gesundheitsversorgung kosten Geld. Wer davon nicht genug hat, schaut auf dem freien Markt in die Röhre. Mögen die Anhänger marktradikaler Vorstellungen noch so sehr behaupten, sie stünden auch für die Menschenrechte: zwar lehnen sie direkte Eingriffe in die Menschenrechte nominell ab, aber wenn der Markt in seiner unermesslichen Weisheit entscheidet, dass Menschen früher sterben müssen, dann ist das eben so. Der Markt hat immer Recht.
Damit sind die Gemeinsamkeiten zwischen ultrarechten und marktradikalen Vorstellungen aber noch nicht ausgeschöpft. Anhänger beider Richtungen beanspruchen für sich auch den Begriff der Freiheit, womit letztlich aber nur die Freiheit der Starken gemeint ist. In einer nationalistischen Welt gibt es Freiheit nur für die starken Nationen, während die Schwachen nach der Pfeife der Starken tanzen müssen. Auf dem freien Markt können die ökonomisch Starken die Abhängigkeit der ökonomisch Schwachen ausnutzen und ihnen ihre Vertragsbedingungen diktieren. Dann heißt es: friss, Vogel, oder stirb. Der freie, unregulierte Markt schafft eine hierarchische Welt, in der die Position des Individuums innerhalb der Hierarchie potentiell fließend ist. In dieser Welt ist Freiheit zwar auf dem Papier ein Grundrecht. Tatsächlich ist sie aber höchst ungleich verteilt und wird so zu einem Privileg. Die weitaus meisten Freiheiten haben die, die gerade an der Spitze stehen. Die Freiheiten, die das Individuum hier und da genießen kann, nehmen ab, je weiter man in der Hierarchie nach unten kommt. Neben der Freiheit ist vielfach auch die Wertschätzung für das Individuum ungleich verteilt: die erfolgreichen Unternehmer an der Spitze der Hierarchie werden oftmals als wertvollere Daseinsform betrachtet als der angeblich nutzlose Bodensatz aus Arbeitslosen.
Auch in der Welt nach ultrarechter Strickart gibt es Hierarchien. Zwar fügen viele völkisch Gesinnte dem egoistisch-individualistischen Menschenbild der marktradikalen Weltsicht eine soziale Komponente hinzu, doch ihre Auffassung vom Sozialen endet an Volks- und Rassegrenzen. So entsteht das Bild von einer Volksgemeinschaft, die sich von anderen, oftmals als minderwertig angesehenen Völkern abgrenzt. Aber auch innerhalb der Volksgemeinschaft sind nicht zwangsläufig alle gleich. Auch hier muss sich der Einzelne in einer Hierarchie unterordnen. Es gibt bessere Kinder des Volkes und schlechtere, Führer und Geführte. Der jeweilige Platz in der Hierarchie wird durch den ungleichen Wettstreit zwischen den Individuen entschieden, durch ein undurchsichtiges Gemisch aus Konkurrenz, Selektion von oben und Beziehungen.
Rechtsextreme und marktradikale Weltbilder haben also, bei allen Unterschieden, die sie ansonsten trennen, einiges gemeinsam. Und diese Gemeinsamkeiten sind nicht zufällig. Sie entspringen dem sozialdarwinistischen Ansatz beider Ideologien. In der marktradikalen Weltsicht tritt der darwinistische Aspekt im ökonomischen Wettstreit offen zu Tage, der nichts anderes ist als ein ökonomisches Surviving of the fittest, ein Kampf des Individuums um seine ökonomische (und als Folge davon oftmals auch physische) Existenz. Während dabei der direkte, gewaltsame Zwang gegen das Individuum noch abgelehnt wird, halten sich Rechtsextreme mit solchen Befindlichkeiten nicht auf. Sie heben den Sozialdarwinismus auf eine völkische, rassische Ebene, und sie sind auch nicht abgeneigt, den Kampf Rasse gegen Rasse mit Gewalt zu führen. Man könnte auch sagen: das neoliberale Gerede von Wettbewerb, Leistung und Eigenverantwortung hat in den letzten Jahrzehnten den Boden für eine Verbreitung sozialdarwinistischen Denkens bereitet, worauf die Ultrarechten nun aufbauen können. Sie können das sozialdarwinistische Projekt, das von marktradikalen Ideologen betrieben wurde, aufgreifen und ihm eine neue, noch fatalere Richtung geben. Eine Richtung, die von neoliberaler Seite so sicher nicht beabsichtigt war.
Um mit diesem Sozialdarwinismus zu brechen, ist ein grundsätzlich anderes Menschenbild vonnöten. Ein Menschenbild, das der Vorstellung von einem Leben als Kampf eine klare Absage erteilt. Statt die Menschen einem freien, darwinistischen Wettbewerb auszuliefern, den am Ende des Tages nur wenige gewinnen und weite Teile der Menschheit nur verlieren können, müssen wir uns auf die Kraft unserer Vernunft besinnen, um mit ihrer Hilfe eine Welt zu gestalten, in der jeder Mensch — und ich meine damit wirklich jeden — einen Platz für ein menschenwürdiges Leben findet.
Die entscheidende Frage ist: welche Art von Menschen wollen wir sein? Wollen wir Menschentiere sein, die gegen ihre Artgenossen kämpfen und sich gegen sie durchsetzen müssen, oder wollen wir aufrechte Menschen sein, die dafür eintreten, dass jedem ein universelles Recht auf ein menschenwürdiges Leben zukommt? Während die einen das Leben als Kampf begreifen, wollen die anderen, dass alle Menschen ein Auskommen haben, dass die Menschen zusammenhalten und füreinander einstehen, ohne ihre Individualität aufzugeben. Sie wollen kein Leben führen, das anderen das Leben schwer oder gar unmöglich macht. Sie halten fest an der Idee universeller Menschenrechte, einer unteilbaren Menschheit, während die anderen die Menschheit spalten wollen.
Welche Art von Menschen wollen wir also sein? Die Antwort auf diese Frage wird unseren Weg in die Zukunft bestimmen. Wie soll unsere Zukunft als Menschheit aussehen? Wenn wir wollen, dass sie wie unsere Vergangenheit wird, eine Mischung aus wenig Licht und viel Dunkelheit, dann können wir unseren gegenwärtigen Kurs einfach beibehalten. Denn die Dunkelheit kommt ganz von allein. Schon seit Jahrtausenden stolpern wir so durch unsere Geschichte, von einer selbst verursachten Kalamität in die nächste. Wenn wir aber wollen, dass mehr und mehr Licht am Horizont erscheint und das Leben unserer Kinder und Enkel ein Helleres wird, dann müssen wir heute die Weichen dafür stellen. Das Licht kommt nämlich nicht von allein. Es muss von uns gemacht werden, immer wieder von Neuem, Generation für Generation. Es ist eine niemals endende Aufgabe für die ganze Menschheit, dieses Licht am Leben zu erhalten.
Viele Starke (und solche, die sich dafür halten) haben sich schon entschieden, wo sie in dieser Frage stehen wollen. Sie standen schon immer vor allen Dingen auf ihrer eigenen Seite. Jetzt kommt es darauf an, wie wir anderen uns entscheiden. Spielen wir ihr sozialdarwinistisches Spiel mit, in dem nur sie gewinnen können, oder befreien wir uns daraus, indem wir ihm etwas Besseres, das Wohl aller Menschen, wer sie auch immer sind und wo sie auch immer leben, entgegensetzen?
Bildung für den Menschen
Was ist der Zweck der Bildung? Warum sollen Kinder in die Schule gehen und lernen? Wenn man viele Leute heute so hört, glaubt man, Bildung habe nur die Aufgabe, junge Menschen möglichst optimal auf eine Berufsausbildung und auf das spätere Berufsleben vorzubereiten. Das ist eine außerordentlich traurige Verkürzung.
Wir Menschen kommen als weitgehend unbeschriebenes Blatt auf die Welt, das sich im Laufe des Lebens füllen muss. Wir entwickeln uns das ganze Leben hindurch. Bildung soll uns dazu in die Lage versetzen, eigenständig über die Welt und unseren Platz darin nachzudenken, selbstbestimmt und verantwortungsvoll unser Leben zu gestalten, eine positive Wirkung auf das Leben unserer Mitmenschen zu entfalten und Verantwortung für das Ganze, für die Menschheit und die Welt, zu übernehmen. Uns Ziele zu setzen, für die wir uns einsetzen. Uns Werte zu geben, für die wir einstehen.
Auch Arbeit gehört zu diesem Leben dazu. Aber es ist bei Weitem nicht der wichtigste Teil. Wir bringen nur einen vergleichsweise kleinen Teil unseres Lebens damit zu. Gemessen an unserer Lebenszeit sind es in der Regel weit unter zwanzig Prozent, die wir für eine Erwerbsarbeit aufwenden.
Es wäre falsch, den Menschen auf die materielle Seite seiner Existenz zu reduzieren. Der Mensch ist mehr als ein Subjekt, das arbeitet und konsumiert. Wichtig ist, dass wir ganze Menschen sind. Die Arbeit gehört dazu, aber viele andere Aspekte noch mehr: Familie, Freundschaften, persönliche Entfaltung, gesellschaftliche Verantwortung. Bildung soll uns dazu verhelfen, dass wir ganze Menschen werden, dass die positiven Facetten des Menschseins in uns reifen und schließlich zur Geltung kommen. Dass aus einem unbeschriebenen Blatt die Erzählung eines erfüllten Lebens werden kann. Eines Lebens, das Erfüllung nicht nur in sich selbst, sondern auch in den Leben der anderen sucht.
Die Schlingpflanze ins Spalier zurückbinden
Man hört ja immer wieder, die Wirtschaft sei ein zartes Pflänzchen, und die Politik sei gut beraten, dieses zarte Pflänzchen nicht zu stören mit hässlichen Gesetzen und nervtötenden Spielregeln.
Und wenn es um Moral geht, heißt es: sich an moralische Grundsätze zu halten, müsse sich auch rechnen, und wenn es sich nicht rechne, müsse man halt leider, leider, leider auf Moral verzichten. Das zarte Pflänzchen der Wirtschaft muss eben unter allen Umständen geschützt werden.
Leute, die so reden, übersehen, dass aus dem zarten Pflänzchen schon längst eine üppig wuchernde Schlingpflanze geworden ist, die uns mehr und mehr erdrückt, während einige wenige ihre Früchte genießen können. Wenn man die Pflanze lässt, erdrückt sie den ganzen Planeten, verzehrt unsere Lebensgrundlagen und damit unsere Zukunft. Wenn sie hungrig ist (und das ist sie fast immer), verschmäht sie auch keine Menschen, denn sie gehört zu den fleischfressenden Arten. Und nicht selten frisst sie auch ihre Kinder. Denn wer heute noch von ihr genährt wird, kann schon morgen in einem ihrer vielen Mäuler verschwinden.
Es ist an der Zeit, die Schlingpflanze ins Spalier zurückzubinden und nicht mehr frei wuchern zu lassen. Damit wir alle von ihren Früchten leben können und niemand mehr von ihr erdrückt oder aufgefressen wird.
Verspürt ein Schwein im Schlachthof Angst?
Ich habe einmal einen Film über einen Schlachthof gesehen, in dem gezeigt wurde, wie Schweine getötet wurden. Ein Mann ging mit einer großen Elektrozange in einer Box mit mehreren Schweinen umher, packte mit der Zange ein Schwein nach dem anderen am Kopf und verpasste ihm einen Stromschlag. Die Schweine, die noch übrig waren, drängten sich panisch quiekend am Rand der Box und versuchten, so weit wie möglich von dem Mann wegzukommen. Das Geschrei war ohrenbetäubend, das kann man sich gar nicht vorstellen. Eine barbarische Szene, die ich so schnell nicht vergessen werde. Oder ist „barbarisch“ vielleicht ein unangemessenes Wort? Verspürt ein Schwein im Schlachthof tatsächlich bewusste Angst? Oder ist ein Schwein, wie manche Philosophen meinen, ein unbewusster biologischer Automat, der nur so tut als ob?
Die Vorstellung darüber, inwieweit das Bewusstsein im Allgemeinen und das Ich-Bewusstsein im Besonderen unter den Lebensformen auf der Erde verbreitet ist, hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Noch vor hundert Jahren ging man einfach davon aus, dass nur der Mensch über ein Bewusstsein verfügt, und dass dadurch dem Menschen eine besondere, hervorgehobene Stellung im Tierreich zukommt. Freilich war das nichts weiter als eine aus den Vorurteilen der damaligen Zeit geborene Ansicht, die einer vorurteilsfreien Betrachtung nicht standgehalten hätte. Die Tatsache, dass auch viele Wissenschaftler diese Ansicht vertraten, zeigt nur, dass vorurteilsfreies Denken und Beobachten auch unter Wissenschaftlern nicht selbstverständlich ist. Wissenschaftler sind auch nur Menschen. Sie sind keineswegs unfehlbar. Das Gleiche gilt damit auch für die Wissenschaft. Sie wächst auf dem Boden der Gesellschaft und ist empfänglich für ihre guten wie auch für ihre schlechten Seiten.
Vor einigen Jahrzehnten kam dann der Spiegeltest, und die Vorstellungen insbesondere über das Ich-Bewusstsein wurden revidiert. Man hatte festgestellt, dass sich verschiedene Menschenaffen im Spiegel selbst erkennen und somit über ein Bewusstsein ihrer eigenen Person verfügen müssen. Bei diesem Test wird einem Tier beiläufig ein Farbklecks auf die Stirn gemalt, dann wird es vor einen Spiegel gesetzt. Wenn das Tier beim Anblick des „Gegenübers“ im Spiegel versucht, den Farbklecks von der Stirn zu wischen, gilt das als Hinweis darauf, dass es sich selbst erkannt hat und über ein Ich-Bewusstsein verfügt. Mittlerweile gibt es entsprechende erfolgreiche Versuche nicht nur mit einigen Menschenaffenarten, sondern auch mit Elefanten und einer Reihe anderer Tierarten.
Seitdem wird der Spiegeltest oft als ein Test auf ein Ich-Bewusstsein betrachtet. Dabei wird jedoch regelmäßig übersehen, dass das Vorhandensein eines Ich-Bewusstseins alleine noch nicht ausreicht, um den Spiegeltest zu bestehen. Ein Ich-Bewusstsein zu haben ist keine hinreichende Bedingung für das Bestehen des Spiegeltests. Es erfordert neben einem Ich-Bewusstsein zusätzlich ein Mindestmaß an Intelligenz, um aus den Bewegungen und dem Verhalten des Gegenübers im Spiegel darauf zu schließen, dass es sich nicht um einen fremden Artgenossen handelt, sondern um die eigene Person. Wenn man zum ersten Mal im Leben vor einen Spiegel gesetzt wird, muss man zumindest auf phänomenologischer Ebene erst einmal erkennen, was ein Spiegel überhaupt ist. Dafür braucht man eine gewisse Intelligenz, die es erlaubt, zumindest rudimentäre logische Schlüsse zu ziehen.
Deshalb kann das Bestehen des Spiegeltests auch kein notwendiges Kriterium für das Vorhandensein eines Ich-Bewusstseins darstellen. Wäre das Bestehen des Spiegeltests ein notwendiges Kriterium für ein Ich-Bewusstsein, so würde das bedeuten: wenn ein Tier den Spiegeltest nicht besteht, dann hat es auch kein Ich-Bewusstsein. Das ist aber nach dem oben Gesagten nicht richtig, denn ein Tier kann auch dann durch den Spiegeltest durchfallen, wenn es zwar über ein Ich-Bewusstsein verfügt, aber nicht über die notwendige Intelligenz, in der Situation vor dem Spiegel die richtigen logischen Schlüsse zu ziehen. Das heißt: aus dem Versagen eines Tieres, das sich im Spiegel nicht erkennt, kann man nicht schließen, dass dieses Tier keine wie auch immer geartete Vorstellung von einem eigenen Ich besitzt. Überhaupt ist davon auszugehen, dass es verschiedene Grade und Abstufungen von Ich-Bewusstsein gibt, die sich im Umgang mit der Welt unterschiedlich auswirken, und die daher auch nicht immer auf die gleiche Weise zu erkennen sein müssen.
Wenn das Bestehen des Spiegeltests schon kein notwendiges Kriterium für ein Ich-Bewusstsein ist, ist es dann wenigstens ein hinreichendes Kriterium? Nein, das ist es auch nicht. Denn es braucht nicht unbedingt ein Bewusstsein, um den Spiegeltest zu bestehen. Rein theoretisch könnte man auch eine unbewusste Maschine konstruieren, die den Spiegeltest erfolgreich absolviert. Der Spiegeltest ist eher ein hinreichendes (und notwendiges) Kriterium für eine bestimmte Form von Intelligenz, denn ohne die Fähigkeit zu logischen Schlüssen läuft vor dem Spiegel nichts. Es handelt sich also in erster Linie um einen Intelligenztest, den man lediglich als Indiz für ein Ich-Bewusstsein ansehen kann, aber keinesfalls als hinreichendes oder gar notwendiges Kriterium.
Das ist auch kein Wunder, denn wir können aus erkenntnistheoretischen Gründen niemals sicher wissen, ob ein anderes Lebewesen (und sei es ein Mensch) über ein Ich-Bewußtsein verfügt oder nicht. Es kann diese Gewissheit einfach nicht geben. Mit dieser prinzipiellen Unsicherheit müssen wir leben. Auch der Spiegeltest kann diese nicht aushebeln. Das heißt aber nicht, dass andere Lebewesen nicht über ein Ich-Bewußtsein verfügen. Es heißt nur, dass wir die Frage nicht mit Sicherheit entscheiden können. Trotzdem können wir eine begründete Annahme treffen, die bei Berücksichtigung aller Gesichtspunkte als die Vernünftigste erscheint.
Schließlich und endlich muss man betonen, dass der Spiegeltest überhaupt nichts darüber aussagt, ob ein Tier zu bewussten Wahrnehmungen und Empfindungen fähig ist oder nicht, was von der bewussten Wahrnehmung des eigenen Ich noch einmal zu unterscheiden ist. Ein Hund, der in seinem eigenen Spiegelbild nur einen Rivalen erkennt, den er anbellt, hat vielleicht kein Ich-Bewusstsein, vielleicht doch. Das lässt sich nicht entscheiden. Aber selbst wenn ersteres richtig ist, bedeutet das nicht, dass der Hund ein empfindungsloser Automat ist, der zwar jault, aber keine Schmerzen spürt, wenn man ihm auf die Pfoten tritt. Das Gleiche gilt auch für einen menschlichen Säugling, der sich im Spiegel genausowenig erkennt wie der Hund. Trotzdem gibt es keinen vernünftigen Grund, davon auszugehen, dass der Säugling ein bewusstloses Etwas ist.
Die Vorstellung von Descartes, der die Vivisektion, also das Zerschneiden von Tieren bei lebendigem Leibe, als Hobby betrieben und das Schreien eines Tieres bei eben dieser Prozedur mit dem Quietschen eines schlecht geölten Rades verglichen haben soll, habe ich schon immer für völlig absurd gehalten. Wir können aus erkenntnistheoretischen Gründen zwar nicht beweisen, dass ein Tier ein Bewusstsein hat, aber wir können auch nicht beweisen, dass das Gegenteil richtig ist. Wenn ein Schwein im Schlachthof alle Anzeichen von Angst und Panik zeigt, wenn seine Artgenossen neben ihm nacheinander mit Stromstößen traktiert werden, dann gehe ich davon aus, dass dieses Schwein die Situation bewusst erlebt und dabei echte Angst empfindet. Nicht viel anders als ein Mensch, der sieht und miterlebt, wie um ihn herum Menschen getötet werden.
Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum nur der Mensch über ein bewusstes Empfinden verfügen sollte. Bewusstsein kann sich im Rahmen der Evolution nur entwickelt haben, wenn es eine Funktion erfüllt (oder einmal erfüllt hat), die sich positiv auf die Anzahl der Nachkommen auswirkt. Es ist kaum anzunehmen, dass sich das Bewusstsein erst mit den Primaten oder gar erst mit dem Menschen entwickelt hat. Es ist eher zu erwarten, dass es sich um eine sehr alte, schon lange vorher entstandene Gehirnfunktion handelt, die zumindest im Tierreich weit verbreitet ist.
Wenn wir also das nächste Mal mit einem Tier zu tun haben, sollten wir davon ausgehen, dass es bewusst erlebt, was wir mit ihm tun. Und wenn wir mal wieder ein Schnitzel auf dem Teller haben, sollten wir vielleicht einmal daran denken, dass ein Schwein nicht nur ein Haufen aus Fleisch und Knochen ist, sondern ein bewusst wahrnehmendes und empfindendes Lebewesen.
Murphys Gesetze der Philosophie
- Es gibt keine Idee oder Vorstellung, für die man nicht mindestens einen Menschen finden kann, der glaubt, dass sie wahr ist.
- Es gibt keine Idee oder Vorstellung, für die man nicht mindestens einen Menschen finden kann, der glaubt, dass sie falsch ist.
- Darunter ist jeweils mindestens ein Philosoph.
Verschleppt und vertagt
Vor fast dreißig Jahren, im Jahr 1993, habe ich für den Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) eine Broschüre zum Thema Energiesparen und erneuerbare Energien verfasst. Vor dem Hintergrund von Fridays for future habe ich diese Broschüre noch einmal aus dem Regal gezogen und mir zu Gemüte geführt. Sie zeigt auf frappierende Weise, dass wir heute im wesentlichen über die gleichen Umweltprobleme diskutieren und debattieren wie damals. Abgesehen von ein paar mühsam erkämpften Fortschritten, vor allem beim Schutz der Ozonschicht, hat sich im Vergleich zu damals nicht wirklich viel verändert. Die meisten Probleme wurden erfolgreich verschleppt und vertagt, allen voran der Klimawandel. Ich finde es ganz aufschlussreich, den alten Text heute noch einmal zu lesen, weshalb ich hier das Vorwort zu der Broschüre wiedergeben möchte. Damals hatte ich folgendes geschrieben:
Mögen Sie Kinder?
Hast Du einmal darüber nachgedacht, dass es Wichtigeres gibt als Geld, \ und Dir Sorgen gemacht über den Zustand unserer Welt?
Gedicht eines zwölfjährigen Kindes
„Die Mietsache ist schonend zu behandeln!“ – diesen Satz habe ich kürzlich auf einem Plakat gelesen, das unseren herrlich blauen Planeten vom Weltraum aus gezeigt hat. Die Erde als ein von uns nur gemietetes Haus, das an die Nachmieter, unsere Kinder, in einem bewohnbaren Zustand zu übergeben ist – wer würde diesem Bild nicht zustimmen?
Doch wenn es so weitergeht wie heute, dann sieht es nicht gut aus für unsere Nachmieter. All die Milliarden Tonnen Abgase, Abwässer, Müll und Beton, die wir Jahr für Jahr auf diesen Planeten loslassen, können nicht ohne Folgen bleiben. Angesichts zunehmender Landschaftszerstörung und Umweltverschmutzung werden immer öfter Eltern von ihren Kindern gefragt, wie es eigentlich auf der Erde mal aussehen wird, wenn sie erwachsen sein werden. Genau wie wir, haben auch unsere Kinder einen Anspruch auf saubere Luft, reines Wasser und giftfreie Böden, auf intakte Landschaften und ein erträgliches Klima. Doch dies alles gefährden wir durch unsere umweltbedrohende Lebensweise, und wir werden uns später nicht damit rausreden können, wir hätten von nichts gewusst. Wir wissen sehr genau Bescheid über Bodenversauerung und Grundwasservergiftung, über Müllberge und Naturzerstörung, über Ozonloch, Luftverschmutzung und Teibhauseffekt. Ständig wird in den […] Medien über Umweltprobleme berichtet; die Fakten liegen schon lange auf dem Tisch. Wenn wir nicht stumm dastehen wollen, wenn unsere Kinder einmal fragen, was wir für die Erhaltung einer gesunden Welt getan haben, dann müssen wir endlich handeln, anstatt über Umweltschutz immer nur zu reden.
Dies betrifft beispielsweise einen umweltschonenden Umgang mit Energie […]. Gewinnung, Transport, Umwandlung und Endnutzung unserer heutigen Hauptenergieträger – Öl, Gas, Kohle und Uran – führen zur Vernichtung ganzer Landschaften und zu enormen Umweltverschmutzungen. Die Emission von etlichen Milliarden Tonnen Schadstoffen und Giften führen über Luft, Böden und Gewässer auch zu gesundheitlichen Schäden bei uns Menschen. Ob Braunkohletagebau oder Öltankerunfälle, ob Atommüll oder Treibhauseffekt: die Menschheit befindet sich in Sachen Energie auf einem sehr gefährlichen und am Ende sehr teuren Weg.
Die Hauptverantwortung für diese Umweltschäden und ihre Folgekosten tragen dabei wir, die Bewohner der Industrieländer, wo 20 Prozent der Weltbevölkerung 80 Prozent der Weltenergie und -rohstoffe verbrauchen. Beispiel Verkehr: allein in einem Bundesland wie Nordrhein-Westfalen sind mehr Autos angemeldet als auf dem gesamten afrikanischen Kontinent. Und wenn alle Menschen so viel Erdöl verbrauchen würden wie wir, eine im Überfluss lebende Minderheit, dann wären nach Angaben der UNO die gesamten Welterdölvorräte in nur viereinhalb Jahren aufgebraucht! Solange wir an unserem verschwenderischen Lebensstil festhalten, ist es das gute Recht der „restlichen“ 80 Prozent der Weltbevölkerung, die gleiche Lebensweise anzustreben. Dass das nicht gutgehen kann, liegt auf der Hand!
So wie bisher geht es einfach nicht mehr weiter, an dieser Tatsache führt kein Weg vorbei. Wenn wir den Ärmsten dieser Erde nicht das Recht absprechen wollen, ihren Energieverbrauch auf ein vernünftiges Maß anzuheben, dann müssen wir unseren Verbrauch auf ein ebensolches vernünftiges Maß reduzieren. Künftig müssen die Einsparung von Energie sowie die Nutzung regenerativer, das heißt erneuerbarer Energien wie Sonne und Wind mit allem Nachdruck verfolgt werden. Mindestens 50 bis 70 Prozent unseres heutigen Energieverbrauches könnten eingespart werden [durch energieeffiziente Technik, Anm. d. Autors]. Der Rest ließe sich mehr und mehr durch erneuerbare Energien ersetzen.
Gegen diese Kurskorrektur in Richtung Energieeinsparung und erneuerbare Energien wird häufig eingewendet, dass sich so etwas nicht rechnen würde. Tatsache ist aber, dass die Kosten für Energiesparmaßnahmen wie zum Beispiel Energiesparlampen, Wärmedämmung, Brennwertheizkessel und weitere, praktisch immer durch die eingesparten Energiekosten wieder hereingeholt werden. Für die Nutzung von Sonne, Wind & Co. trifft dies in vielen Fällen ebenfalls zu. In den Fällen, in denen heute eine Betriebswirtschaftlichkeit der erneuerbaren Energien noch nicht gegeben ist, kann sich das künftig mit steigenden Energiepreisen völlig ändern. Zudem kann man auch heute schon von einer vorsorgenden Wirtschaftlichkeit in dem Sinne sprechen, als wir mit der Nutzung erneuerbarer Energien den Menschen von morgen unberechenbare Folgekosten aufgrund von Klimaveränderungen und anderen Schäden an Umwelt und Gesundheit von vornherein ersparen. Die Erneuerbaren sind also am Ende wirtschaftlicher als die heutigen Hauptenergieträger, die horrende Kosten verursachen, die in den derzeitigen Preisen nicht enthalten sind. Eine Solar- oder Windanlage rechnet sich auf diese Weise jedenfalls eher als ein Zweitwagen, ein Zweiturlaub oder andere Dinge, für die bereitwillig viel Geld ausgegeben wird. Der Einsatz erneuerbarer Energien ist eine gut angelegte Investition in unsere ökologische und wirtschaftliche Zukunft: die Zukunft unserer Kinder.
Also: worauf warten wir noch? Es ist Zeit zu handeln – nicht übermorgen, nicht morgen, sondern heute!
(Aus: Frank Schäfer, Eine saubere Sache – Energiesparen, Sonne und Wind, Herausgeber: Landesverband Rheinland-Pfalz im Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Osthofen, 1993).
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Soweit das Vorwort zu der Broschüre aus dem Jahr 1993. Wie der Text zeigt, war schon damals bekannt, welche technischen Möglichkeiten zur Verfügung stehen, um der Klimakrise zu begegnen. Trotzdem ist viel zu zögerlich und zu halbherzig gehandelt worden. Auch heute hört man noch den dümmlichen Spruch, wir müssten noch auf neue Techniken warten, und die Kinder sollten doch Freitags in die Schule gehen, um Ingenieure zu werden und die Rettung ihrer Welt selbst in die Hand zu nehmen. Mehr Ingenieure wären gut, und weitere technische Möglichkeiten, insbesondere zur Energiespeicherung, werden auch gebraucht. Aber die vorhandenen technischen Mittel sind bei weitem noch nicht ausgeschöpft. Es fehlt nicht an Ingenieuren und technischen Lösungen, um jetzt aktiv zu werden. Es fehlt an Einsicht und am politischen Willen, wirksame Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels zu ergreifen. Wenn die Politik damals entschlossen gehandelt hätte, wären wir heute im Kampf gegen den Klimawandel schon wesentlich weiter. Wertvolle Zeit wurde vertan und verschenkt. Die jungen Menschen, die heute zu Recht protestieren, dürfen sich nicht mehr länger vertrösten lassen. Sie müssen von den Erwachsenen ein wirksames Handeln einfordern, statt die Sache weiter auf die lange Bank zu schieben. Und die Erwachsenen, die guten Willens sind, müssen sie darin unterstützen. Ohne massiven Druck wird sich hier gar nichts bewegen. Zu groß sind die Widerstände in der Politik und in Teilen der Bevölkerung, die am liebsten alles so lassen würden, wie es heute ist.