Wider besseres Wissen

Wir wissen um die Prinzipien der Aufklärung, wir kennen die grundsätzlichen Grenzen der Erkenntnis, wir kennen die psychologische Forschung: wir sollten eigentlich wissen, dass es Mechanismen gibt, die zu einem schematischen Schwarz-Weiß-Denken führen, zur Entwicklung von Feindbildern und entsprechender Propaganda. Wir sollten wissen, dass jedes Land, jede Kultur, ja jeder einzelne Mensch gute und schlechte Eigenschaften hat. Niemand ist nur gut oder nur schlecht. Wir sollten wissen, dass Menschen dazu tendieren, sich selbst im Recht zu sehen. Wenn wir denken, im Recht zu sein, bedeutet das noch lange nicht, dass wir tatsächlich im Recht sind. Jeder kann falsch liegen, jeder kann sich irren, jeder kann im Unrecht sein.

Dennoch macht sich auf allen Ebenen eine unduldsame Rechthaberei breit. Meinungen und Anschauungen werden zunehmend mit einer Absolutheit vertreten, die anderen Meinungen die Existenzberechtigung abspricht. Die Ursache dieser Rechthaberei ist ein mangelnder Abstand zum eigenen Denken, eine mangelnde Kritikfähigkeit an der eigenen Position — nicht selten auch eine Überschätzung der eigenen intellektuellen Fähigkeiten, eine Art von intellektuellem Größenwahn, als wäre man selbst einer der größten Experten des Planeten, der alles richtig beurteilen kann. Jeder Gedanke, der sich richtig und gut anfühlt, wird für wahr genommen, egal, wie unausgegoren oder haltlos er in Wirklichkeit ist. Darüber hinaus besteht eine gefährliche Tendenz, nur noch die Informationen wahrzunehmen, die das eigene, vorgefasste Weltbild bestätigen, und alles zu ignorieren, was der eigenen Meinung widerspricht. Hinzu kommt eine aggressive Intoleranz gegenüber anderen Meinungen und den Menschen, die diese vertreten — eine Intoleranz, die noch vor wenigen Jahren zumindest hierzulande undenkbar schien.

„Ich habe Recht, du hast Unrecht“ — dieses unselige Denken, diese fanatische Schwarz-Weiß-Malerei führt zu einer gefährlichen Spaltung in unversöhnliche Lager, die sich voller Misstrauen und Feindseligkeit gegenüber stehen. Und zwar innerhalb einer Gesellschaft genauso wie innerhalb der ganzen Menschheit. Je länger diese Spaltung andauert, umso tiefer wird sie, und umso mehr droht sie sich zu verhärten. Man kann sie inzwischen in unzähligen Internetforen beobachten, in denen unerbittliche Meinungskriege ausgefochten werden. Auch viele professionelle publizistische Kanäle sind davon betroffen. Auch sie sind sehr häufig Parteigänger einer bestimmten Sichtweise. Auch sie sehen ihre eigene Seite im Recht und andere im Unrecht. Auch sie sind gleichermaßen Opfer und Protagonisten dieser Spaltung.

Das alles ist aber nichts prinzipiell Neues. Aus der Geschichte sind unzählige Beispiele für grassierende Stereotype und entsprechende Feindbilder bekannt. Wir könnten das alles wissen. Und Maßnahmen dagegen ergreifen. Wir könnten die Rechthaberei als das bloßstellen, was sie ist: eine ungerechtfertigte Anmaßung, eine aggressive Unduldsamkeit, die vernünftige Kompromisse und ein Aufeinanderzugehen völlig unmöglich macht. Vernünftigerweise müssen wir die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass wir selbst im Unrecht sein können. Die Stimme der Vernunft würde die eigene Fehlbarkeit anerkennen. Aber das ist etwas, was viele in ihrer Selbstzentriertheit und geistigen Verhärtung unter keinen Umständen akzeptieren wollen.

Statt den Weg der Vernunft zu wählen, legen sie eine fatale Unvernunft an den Tag, indem sie fest an die Richtigkeit ihrer Schwarz-Weiß-Malerei und der daraus resultierenden Feindbilder glauben. Dass sich insbesondere viele unserer professionellen Medien munter daran beteiligen, ja die Schwarz-Weiß-Malerei massiv befeuern, ist ein besonders schlimmes Versagen, das dem eigenen Anspruch und Berufsethos der Medien massiv widerspricht. Bei manchen Medienschaffenden mag sich das Versagen daraus ergeben, dass sie ihre Meinung und die Wirklichkeit tatsächlich nicht auseinander halten können, weil sie zu einem sauberen Denken trotz ihrer Ausbildung einfach nicht in der Lage sind. Das mag es durchaus geben. Es müssen ja nicht immer die Intelligentesten sein, die „etwas mit Medien machen“. Bei manchen mag das anfänglich saubere Arbeiten auch mit der Zeit unter einem Berg aus schlechten, aber praktischen Gewohnheiten verschüttet worden sein. Nicht zuletzt sind nicht nur die Medienrezipienten für einfache Botschaften empfänglich, auch die Journalisten selbst sind nicht davor gefeit.

Das bedeutet aber nicht, dass das mediale Versagen immer nur unabsichtlich stattfindet. Mancher wird durchaus wissen, dass er vereinfachte Botschaften verbreitet, dass er Schwarz-Weiß-Malerei betreibt. Er tut es trotzdem, etwa um seinen Job nicht zu verlieren, um seine Karriere voranzubringen, oder um eine politische Agenda zu transportieren. Zu denken, dass es so etwas nicht gibt, wäre äußerst naiv. Es gibt nicht nur wohlmeinende Menschen im Journalismus, die im besten Glauben handeln, sauber zu arbeiten (auch wenn sie diesen Anspruch nicht immer erfüllen), sondern auch mitunter böswillige und verlogene, die genau wissen, was sie tun. Böswillige Menschen, Opportunisten, Mitläufer und Jasager gibt es in jeder größeren Gruppe und damit auch im Journalismus. Das ist praktisch unvermeidlich. Dass die anderen Journalisten und wir als Gesellschaft aber so tun, als ob es das alles nicht gäbe, ist schlichtweg unverzeihlich.

Ebenso unverzeihlich ist, dass wir im 21. Jahrhundert mit all dem Wissen und all den Erfahrungen, die wir als Menschheit haben, immer noch massenhaft auf Stereotype hereinfallen und felsenfest an die Wahrheit von Feindbildern glauben. Man kann von uns durchaus verlangen, dass wir es besser wissen sollten. Aber so viel Realitätssinn ist von den Menschen, die ja bekanntlich zu den Affen gehören, offenbar nicht zu erwarten.